Die Extremsituation für das AMS in den letzten Monaten ist ein Stück weit durchgestanden. Jetzt kommt wieder enorm viel auf die Organisation zu?
JOHANNES KOPF: Der Irrsinn, binnen Tagen einen Prozess aufsetzen zu müssen, um 160.000 Firmen zu betreuen statt der 25 Einzelfälle vor Corona, der ist weg. In der Wirtschaftskrise 2009 waren 600 Firmen in Kurzarbeit. Wir mussten im Lockdown 1000 Leute für die Kurzarbeit organisieren. Dass das AMS das bewältigen kann, war nicht sicher. Jetzt ist es beeindruckend, wie es gelungen ist.
Wie ist es gelungen?
Mit rund 500 eigenen Leuten und Externen von Beratungsunternehmen, der Buchhaltungsagentur, dem Amt für Eich- und Vermessungswesen und der Gesundheitskasse. Gleichzeitig ist ja auch die Arbeitslosigkeit explodiert mit plus 230.000 Arbeitslosen in den beiden Märzwochen nach dem Lockdown.
Droht mit dem Ende der Kurzarbeit Phase II eine zweite Kündigungswelle? Hat die Gewerkschaft Sie schon vorgewarnt?
Jede Prognose in einer Zeit wie dieser ist schwierig. Ich habe mich selbst gewundert, dass fast im Tagestakt Meldungen kamen, so nach dem Motto, kippt jetzt auch noch die Industrie großflächig. Wenn man sich die Unternehmen aber im Einzelnen anschaut, war aber nicht alles überraschend. Viele Firmen hatten schon länger Probleme, etwa weil die Automobilbranche kriselt. Oder FACC, wo die Flugzeughersteller schon länger Probleme haben. Swarovski will auch schon länger die Produktion verlagern. Und dass die Doka sich mit einem riesigen Verleihsystem selbst konkurrenziert, ist mir auch bekannt. Mir erscheint es noch zu früh, aus dieser Liste von Unternehmen auf einen wirklichen Einbruch der Beschäftigung in der Industrie zu schließen. Wir sehen noch keine zweite Welle.
Mit wie viel Arbeitslosen rechnen Sie in den nächsten Monaten? Mit 500.000 oder vielleicht doch 800.000, eine Zahl, die auch schon einmal herumgeisterte?
In absoluten Zahlen wird sie natürlich steigen – um rund 100.000, möglicherweise 120.000 – spätestens wenn es schneit, also saisonal bedingt. Noch läuft der Bau extrem gut, er ist eine große Konjunkturstütze. Die 800.000 halte ich nicht für seriös, die sehen wir gar nicht. Anfang 2021 wird die Statistik noch nicht wirklich aussagekräftig sein. Erst ab Juni, Juli 2021 werden wir im direkten Vergleich sehen, wie es wirklich ausschaut.
Muss man in einer Krise wie dieser Arbeitslosenunterstützung und Schaffung von Arbeitsplätzen nicht völlig neu denken?
Man kann nie sagen, man soll nicht neu denken. Aber es gibt schon Standardprogramme in der Arbeitsmarktpolitik. In der Krise sollst Du schulen, und bei guter Konjunktur Beschäftigung fördern und vermitteln.
Die neue Corona-Stiftung der Regierung soll 100.000 Menschen helfen. Sie läuft über das AMS, wie bringt man das auf den Boden?
Die Regierung hat mit 700 Millionen Euro frischem Geld ein großes Paket bei uns beauftragt. 420 Millionen davon für 2021, der Rest für 2022. Das ist eine Erhöhung der Mittel um 40 Prozent. Wir schnüren gerade noch Details des Programms, Mitte Oktober haben wir dazu konkrete Zahlen. Wer Interesse an einer Ausbildung hat, soll sich melden, einige Ausbildungen können wir aufstocken. Man kann ab Oktober eintreten. Ich freue mich, dass die Politik der Versuchung widerstanden hat, uns top down Dinge anzuschaffen, nach dem Motto, wir machen 10.000 Metall-Facharbeiter oder 5000 Pflegekräfte. Arbeitsmarktpolitik ist regional. Wir konzipieren die Maßnahmen gerade aus den Regionen heraus. Es wird viele Schwerpunkte geben, Facharbeiter-Intensivausbildungen etwa im Metall- oder Baubereich, Elektro, Pflege, Kinderbetreuung, Frauen in die Technik. Weil der Lehrstellenmarkt auch belastet ist, wird die überbetriebliche Ausbildung um 30 Prozent erweitert. Da wird es 14.000 statt bisher 11.000 Plätze geben.
Fehlt vielen Arbeitslosen nicht jetzt schon der Überblick?
Durch die momentane Telefonberatung - Stichwort social distancing - ist Vieles sicher schwieriger als im persönlichen Gespräch. Insbesondere, Menschen von einer zwölfmonatigen Ausbildung zu überzeugen.
Wo werden die 250 neuen Mitarbeiter eingesetzt?
Die helfen uns, zwei akute Probleme zu lösen. Wir müssen nirgends Planstellen wegnehmen, um andere Regionen zu stützen. Eingestellt wird das Personal vor allem in Tourismus-Bundesländern, Tirol und Salzburg. Unser zweites Problem ist, unsere telefonische Erreichbarkeit ist schlecht, nicht so arg wie bei der 1450, aber wir haben oft zu lange Wartezeiten.
Reichen die 250?
Es sind nicht so viele, wie wir nach unserer Rechnung eigentlich brauchen, aber wir wollen nicht undankbar sein.
Die Sockelarbeitslosigkeit ist schon länger hoch, auch bei Jungen. Was will man da tun?
Ich mag den Ausdruck nicht, weil er sagt, jemand ist chancenlos. Es gelingt immer wieder, dass jemand trotz schwieriger Voraussetzungen Fuß fasst. Herausforderungen sehen wir bei den langzeitarbeitslosen Älteren, wo wir es mit vielen Vorurteilen, Diskriminierungen der Betriebe zu tun haben. Wir sind da im Europa-Vergleich nicht mehr ganz das Schlusslicht, aber bei der Beschäftigung von Älteren hinken wir weit hinter Deutschland her.
Was hilft den Jungen?
In Wien bauen wir das AMS für Jugendliche ganz neu, einen wunderschönen „Flagshipstore“ des AMS für alle unter 25. Bis jetzt geht die Jugend-Betreuung bis 21. Das tolle Gebäude bei der Philadelphiabrücke wird ab Dezember unsere größte Geschäftsstelle in Österreich sein. Wir sind dort mit dem Magistrat 40, die MA 40 macht die Mindestsicherung für Jugendliche. Existenzsicherung, Ausbildung und Vermittlung unter einem Dach zu haben, das ermöglicht erstmals gemeinsame Fallbesprechungen. Die MA 40 kann die Jugendlichen auch an der Hand nehmen, was wir nicht können.
Die ureigenste Aufgabe, das Vermitteln von Stellen, kann im Moment nur eingeschränkt wahrgenommen werden. Wann wird sich das bessern?
Die wichtigste Dienstleistung, die wir im Moment erbringen, ist die Versicherungsleistung, dass die Menschen ihr Geld bekommen. Die zweite ist die Kurzarbeit, die uns noch massiv belastet, dann kommt die Vermittlung. Hier beginnen wir gerade wieder mit der intensiven Vermittlung. Es ist aber noch gar nicht so einfach, weil viele Firmen die Vorstellungsgespräche online machen, aber da sind wir auch dabei, uns zu professionalisieren.
Ist die IT des AMS fit genug für den aktuellen Ansturm?
Wir waren gerade als die Kurzarbeit so explodiert ist, enorm belastet, hatten auch Ausfälle in der Telefonanlage und EDV. Mit IBM und dem Bundesrechenzentrum ist das bewältigt worden. Gemeinsam mit dem Bundesrechenzentrum werden wir unsere Systeme modernisieren. Das läuft heuer.
Was halten Sie von der Idee einer Arbeitszeitverkürzung?
Die haben wir ja, nämlich Kurzarbeit. Das tolle an ihr ist, dass sie den Unternehmen Flexibilität gibt. Wenn man jetzt eine generelle Arbeitszeitverkürzung macht, hat man genau diese Flexibilität nicht mehr, nur eine Verteuerung für den einzelnen Betrieb. Ich bin der Meinung, das ist jetzt unverantwortlich.
Sie sind kein Freund der Kurzarbeit?
Doch absolut, aber sie ist nichts für längere Dauer.
Sollte etwas wie seinerzeit die Aktion 20.000 oder jetzt das Programm "Chance 45" kommen?
Das sind stark sozialpolitische Anliegen, die man hauptsächlich über die Gemeinden organisieren sollte. Die Aktion 20.000 war beim AMS angesiedelt, sie war zu groß. Man bekommt sehr schnell das Problem, andere bezahlte Jobs zu konkurrenzieren.
Sie haben sich öfter für ein Sinken des Arbeitslosengeldes nach drei Monaten ausgesprochen. Warum?
Es muss nach der ersten Phase, in der man nach dem optimalen Job sucht, ein Punkt kommen, wo ich flexibler werde. Was die Anfahrt betrifft, die Branche, das Gehalt, was auch immer. Jetzt ist dafür aber nicht die richtige Zeit. Dafür muss die Arbeitslosigkeit niedriger sein. Jetzt kann man darüber diskutieren, ob man besser Geld in die Hand nimmt, wie bei der Einmalzahlung, wo es um soziale Themen geht und Stützung der Konjunktur.
Wie praxistauglich sind die Vorschläge aus der Wirtschaftskammer zu mehr Flexibilität und Zumutbarkeit?
Ein bissl ist es ein Reflex, den wir in der Vergangenheit schon gesehen haben. Wenn die SPÖ nach mehr Arbeitslosengeld oder wie jetzt nach einer Arbeitszeitverkürzung ruft. Wir haben uns schon vor Covid intensiv mit überregionaler Vermittlung beschäftigt. Wegen der Wohnmöglichkeiten geht es im Wesentlichen fast nur im Tourismus. Nur die haben Unterkünfte und nur dort ist es üblich auf Saison zu gehen.
Claudia Haase