Teslas Erfolgsrennen überrascht viele Investoren. Da lohnt sich ein Blick zurück auf die Anfänge der Methode Musk. Manager von Daimler konnten ab 2009 aus nächster Nähe erleben, wie die Kollegen bei Tesla und ihr Chef Elon Musk einen neuen Ansatz für den Bau von Fahrzeugen verfolgten, der das traditionelle System in Frage stellte. Ingenieure des Stuttgarter Traditionskonzerns hatten Kontakt aufgenommen zu dem noch wenig bekannten Tech-Startup in Kalifornien, woraus sich eine fünfjährige Partnerschaft entwickelte. "Uns hat die Risikobereitschaft fasziniert", fasst einer von drei Mercedes-Insidern zusammen, die Reuters detailliert von den Aha-Momenten dieser Kooperation berichten.
Der Dax-Konzern Daimler, dessen Namensgeber Gottlieb Daimler das Auto vor 134 Jahren erfand, kaufte im Mai 2009 knapp zehn Prozent an Tesla und verpasste dem Pionier so eine Finanzspritze von 50 Millionen Dollar. Im Gegenzug gewährten die Kalifornier den Mercedes-Ingenieuren einen Einblick in die Arbeitsweise von Musk: Eine Technologie wird eingeführt, auch wenn sie noch nicht perfekt ist, um sie dann immer wieder zu verbessern - mit Updates, so wie es bei den Smartphones aus dem Silicon Valley an der Tagesordnung ist.
Wie die Mercedes-Insider erzählen, halfen die Ingenieure des schwäbischen Autobauers Tesla bei der Entwicklung der Luxuslimousine Model S. Im Gegenzug erhielt Mercedes Zugriff auf die teilweise von Hand gefertigten Batteriepakete Teslas. Doch die Daimler-Manager bezweifelten, dass diese Bauweise industrialisiert werden könnte. Weil der Tesla noch kein voll entwickeltes Software- Betriebssystem hatte, war das Model S für Daimler-Ingenieure nicht mehr als eine "Batterie auf Rädern". Das Management beschloss 2014, das offiziell als reine Finanzanlage bezeichnete Tesla-Aktienpaket zu verkaufen. Der US-Elektroautopionier ging den Weg weiter, die Software der Fahrzeugelektronik so zu gestalten, dass Innovationen schneller eingeführt werden können als bei der Konkurrenz. Analysten bewerteten Tesla fortan in der selben Kategorie wie den Tech-Riesen Apple. Fast alle Autobauer eifern Teslas Methode heute nach. Tesla reagierte auf eine Anfrage von Reuters zu diesen Hintergründen nicht.
Die Mercedes-Manager beschreiben die kurze Partnerschaft als Aufeinanderprallen alter und neuer Ingenieurskultur: auf der einen Seite die deutsche Besessenheit von absoluter Sicherheit und Kontrolle - ein Ansatz, der die Evolution von verlässlichen Technologien bevorzugt. Auf der anderen Seite das experimentelle Herangehen des Silicon Valley, das radikales Denken und schnelle Innovation verlangt. "Er ist auf des Messers Schneide gelaufen", sagt ein früherer Mercedes-Ingenieur über Musk, der als erster Unternehmer im Mai ein Raumschiff zur Weltraumstation ISS schickte. "Dann ist er von Null auf Hundert gesprungen. Nicht Mond, gleich den Mars." Aggressiv, um erster zu sein, habe Musk zum Beispiel ein Fahrerassistenzsystem auf den Markt gebracht, das dann nachträglich verbessert wurde. Im Gegensatz dazu ist es für eine auf absolute Sicherheit bedachte Traditionsmarke wie Mercedes eine grausige Vorstellung, eine neue Technologie wie automatisiertes Fahren auszurollen, ohne dass diese jahrelang erprobt worden und ausgereift wäre.
Doch die Anleger bevorzugen das Modell Tesla in einer Autoindustrie, die gerade einen schwindelerregenden fundamentalen Wandel durchmacht. Dass der US-Autoschmiede mittlerweile eine Meute Elektroautos der etablierten Konkurrenz auf den Fersen ist, ändert daran nichts. Investoren setzen ihr Geld auf Musk und seine Firma, obwohl allein Mercedes-Benz in der ersten Hälfte dieses Jahres 935.089 Autos verkaufte im Vergleich zu kümmerlichen 179.050 von Tesla. Aber Tesla ist heute an der Börse fast 305 Milliarden Dollar wert, mehr als das Sechsfache der Marktkapitalisierung des Dax-Konzerns Daimler.
Die Zusammenarbeit von Daimler und Tesla begann, nachdem Ingenieure während ihrer Arbeit an der zweiten Generation des elektrischen Smart einen Tesla Roadster kauften. Sie waren von den Batterien und vom Antrieb beeindruckt. Also statteten sie Musk im Jänner 2009 einen Besuch ab und bestellten bei ihm 1000 Batterien. Im Mai desselben Jahres luden beide Unternehmen zu einer Pressekonferenz im Mercedes-Museum in Stuttgart ein. Tesla erklärte, die Partnerschaft mit den Schwaben werde "den Start der Produktion unseres Tesla-Modells S beschleunigen und dafür sorgen, dass es ein Fahrzeug der Superlative ist".
Mercedes wiederum wollte die Batterien von Tesla in der elektrischen Version seiner kompakten Mercedes-Benz B-Klasse verbauen. Das Tesla Model S kam 2012 auf die Straße, die B-Klasse brauchte zwei Jahre länger. Denn neben dem Elektroantrieb entwickelte Daimler die B-Klasse auch mit Benzin, Diesel, Erdgas und Brennstoffzelle, da nicht klar war, ob sich die Batterie oder ein anderer alternativer Antrieb durchsetzen würde.
Obwohl die Batterien von Tesla geliefert wurden, hatte der Mercedes eine kürzere Reichweite. Denn die Daimler-Ingenieure gestalteten den Antrieb konservativer, um die Batterie langlebiger zu machen und damit die Gefahr einer Überhitzung zu vermindern, wie ein an dem Projekt beteiligter Daimler-Mitarbeiter erklärt. Die deutschen Ingenieure fanden heraus, dass ihre Kollegen bei Tesla die Batterie keinem Langzeit- Stresstest unterzogen hatten. "Wir mussten ein eigenes Programm für Belastungstests entwerfen", sagt der Ingenieur.
Ein weiteres Beispiel: Das "Lastenheft" ist für Tesla ein Fremdwort - für deutsche Ingenieure dagegen so etwas wie der heilige Gral der Autoentwicklung. Bevor die Produktion eines neuen Autos beginnt, wird hier jedes technische Detail festgehalten. Sobald das steht, gibt es keine wesentlichen Änderungen mehr. "Auf diese Weise können Sie auch garantieren, dass wir profitabel bei der Massenproduktion sind. Tesla war nicht so besorgt über diesen Aspekt", erklärt der Insider.
Die Daimler-Ingenieure schlugen vor, den Unterboden des Modells S zu verstärken, damit aufspritzende Steine von der Straße die Batterie nicht beschädigen könnten. Um Sicherheitsbedenken nach einigen Batteriebränden zu begegnen, erhöhte Tesla das Fahrzeug über ein ferngesteuertes Software-Update. Ab März 2014 boten die Kalifornier die Nachrüstung eines dreifachen Unterbodenschutzes an. "Er hatte brennende Autos, das hätte unserer Marke massiv geschadet", sagt ein Mercedes-Mann. Doch Musk habe sich so etwas mit dem "Artenschutz eines Exoten" erlauben können.
Tesla konnte dank der Vorschusslorbeeren von Investoren auch mehr Geld für schnelle Änderungen verbrennen. "Bei Mercedes kann man bestenfalls alle drei Jahre solche Anpassungen vornehmen", sagt der Ingenieur. Teslas viertüriges Modell S überholte mit dem Absatz das Mercedes-Flaggschiff S-Klasse in den Vereinigten Staaten erstmals im Mai 2013. Beim Jahresabsatz weltweit stellte Tesla das Spitzenprodukt aus Sindelfingen 2017 in den Schatten.
Musks Fixierung auf Innovation erklärt zum Teil, warum er die gesamte traditionelle Autowelt aufscheuchen konnte. In einem Interview auf dem 2020 Air Warfare Symposium sagte er zur Bedeutung technischer Neuerungen für seine Mitarbeiter: "Die Anreizstruktur ist so aufgesetzt..., dass Innovation belohnt wird. Unterwegs Fehler zu machen, zieht keine große Strafe nach sich. Aber Versagen dabei, Innovationen überhaupt zu versuchen, wird bestraft. Du wirst gefeuert."
Allmählich holen die etablierten Autohersteller auf, indem sie eigene Betriebssysteme für ihre Fahrzeuge entwerfen. Mercedes bringt nächstes Jahr den EQS heraus, das elektrische Pendant zur Nobellimousine S-Klasse. Die neue Elektrofahrzeug-Plattform soll eine Reichweite von 700 Kilometern ermöglichen. Die in diesem Jahr ausrollende nächste S-Klasse-Generation mit Verbrennungsmotoren wird mit neuen autonomen Fahrfunktionen gespickt. Doch aus Sicht von Investoren hängt die lange Geschichte des Verbrennerautos wie ein Mühlstein am Hals der Traditionshäuser. Der Umschwung zu Elektroautos verschlingt Milliarden für die Umstellung der Produktion sowie Abbau und Umschulung von Personal. "Niemand gibt einem Automobilhersteller ein Zeitfenster von fünf Jahren zum Umbau und finanziert diese Reise", sagt Mark Wakefield, Vize-Chef für Automobil- und Industrieproduktion bei der Beratungsfirma AlixPartners. Start-ups dagegen schenkten die Anleger Zeit, um zu lernen, Fehler zu machen und zu wachsen.
Die Geldgeber trauen Tesla zu, die Autoproduktion so zu revolutionieren wie einst Toyota. Mit ihrer hocheffizienten, qualitativ hochwertigen "Lean Production" der 50er Jahre setzten die Japaner neue Maßstäbe für Sparsamkeit und Tempo im Automobilbau. Toyota überholte mit der Marktkapitalisierung den damaligen Marktführer General Motors schon 1996. Doch es sollte noch bis 2008 dauern, bis die Marke mehr Autos verkaufte als der Rivale aus Detroit. Auch der Marktführer Japans arbeitete einige Jahre mit Tesla zusammen, etwa seit 2010 bei der Entwicklung des elektrischen Kompakt-SUV RAV4. Die Toyota-Manager waren zwar beeindruckt von der Geschwindigkeit der Amerikaner. Aber sie blieben genauso skeptisch wie Daimler bei der Frage, ob Teslas Herangehen für die Massenproduktion taugt bei den Qualitätsstandards, die Toyota anlegt, wie zwei mit der Partnerschaft vertraute Insider erzählen. Das Projekt hatte mit der Lieferung von rund 2500 Elektroantrieben über drei Jahre sein Ziel erreicht und wurde 2014 beendet.
Aber dann kam 2015 der Diesel-Abgasskandal bei Volkswagen. Er wirkte wie ein Turbo für strengere Klimaschutzvorschriften und zwang die Autoindustrie zur Aufholjagd mit der Elektrifizierung. "Dieselgate" habe so die geschäftliche Kalkulation zugunsten von Elektroautos verschoben, sagt ein Daimler-Manager. Abzuwarten bleibe, ob Tesla - so wie es lang geübte Praxis bei den angestammten Herstellern ist - auch große Stückzahlen wuppen könne. "Tesla hat einen Vorsprung. Mal sehen, ob sie skalieren können."