Eine „Unfähigkeit, Dinge zu fertigen“ spricht Investoren-Ikone Marc Andreessen der US-Wirtschaft zu, weil es im Zuge der Coronakrise an Medikamenten, Masken oder Beatmungsgeräten fehlt. Herr Herger, setzt man im softwaregetriebenen Silicon Valley aufs falsche Pferd?
MARIO HERGER: Naja. Andreessen bezieht sich in seiner Kritik ja auf die USA als Gesamtes und weniger auf das Silicon Valley. Tatsächlich wurden in den USA viele Arbeitsplätze in der Produktion ausgelagert und dadurch ging die Fähigkeit verloren, Dinge zu produzieren. Man schafft etwa kaum große Infrastrukturprojekte, wie Sie an zerbröckelnden Brücken oder kaputten Straßen gut sehen können. China hat in den letzten zehn Jahren mehr Beton verbaut als die USA in ihrer Geschichte. Im Silicon Valley ist der Mix nicht so schlecht. Und es müsste gelingen, die Art und Weise, wie Probleme dort unternehmerisch angepackt werden, in andere Teile der USA rauszubringen. Man muss die Kirche aber auch im Dorf lassen. Nicht alle Probleme der Welt können im Silicon Valley angepackt und gelöst werden.

Wie hart trifft die Krise die Tech-Unternehmen ökonomisch?
Unternehmen, deren Geschäft darauf basiert, dass sich Menschen bewegen müssen, haben große Einbußen erlitten. Uber oder Airbnb etwa. In der Krise deutlich dazugewonnen haben dafür Dienste, die nützlich sind, um Digitales oder Waren zu transportieren. Denken Sie an Amazon oder den Videodienstanbieter Zoom. Jeder kennt das Unternehmen heute.

Wie hat sich der Alltag in Kalifornien verändert?
Kalifornien hat viel strikter auf den Ausbruch des Coronavirus reagiert als viele andere Bundesstaaten und gemeinsam mit New York als Erstes auf den Lockdown gesetzt. Dieser war allerdings nie so hart wie jener in Österreich. Dennoch haben die Restaurants schließen müssen. Was unter anderem dazu führte, dass plötzlich überall Lieferroboter – Kühlboxen auf vier Rädern – aufgetaucht sind.

Ihr neuestes Buch nennt sich „Corona als Chance: Was nach der Krise anders sein wird“. Was ändert sich denn im Silicon Valley?
Einerseits werden verstärkt Unternehmen kommen, die Ideen haben, welche vielleicht schon einmal da waren, aber als nicht relevant eingestuft wurden. Andererseits wird versucht, Zulieferketten verstärkt innerhalb des Landes aufzustellen, um unabhängiger zu sein.

Sie kennen freilich auch Österreich und dessen Mentalität sehr gut. Was bleibt hier nach Corona, was vorher nicht war?
Die Art und Weise wo und wie wir arbeiten wird sich ändern, „Home Office“ wird fortan viel präsenter sein. Auch hat Corona digitale Lücken in der öffentlichen Verwaltung schonungslos offengelegt und gezeigt, wo es absurderweise nach wie vor analoge Unterschriften braucht. Telemedizin gewinnt jetzt rasch an Relevanz, viele neue – digitale – Services werden entstehen und nicht zuletzt brachte Corona dem Land und vielen Unternehmen einen Crashkurs in Sachen Digitalisierung.

Warum brauchte es diesen Crashkurs überhaupt? Sprich: Warum hat es Digitales in Österreich – und auch in vielen anderen Teilen Europas – so schwer?
Das hat damit zu tun, dass die Stimmung neuen Technologien gegenüber in Europa generell negativ ist. Ich orte sogar eine Technologiefeindlichkeit. Wir reden etwa intensiv und zurecht über Klimaschutz und Klimawandel – aber dann kommen E-Autos und es wird zuallererst nach Gründen gesucht, warum die Technologie schlechter sein soll als bestehende Antriebsformen.

Wie kam es zu diesem von Ihnen diagnostizierten Überhang der Skepsis?
Es gilt vorauszuschicken: Wir waren nicht immer so. Vor 120, 130 Jahren waren Österreich und Deutschland das Silicon Valley der Welt. Vor allem Wien, mit seinen Stärken in der Wissenschaft, der Kultur, spielte eine große Rolle. Heute aber geht’s uns gut, wir sind satt und zufrieden geworden. Außerdem glaubte man, mit inkrementeller Innovation – also Optimierung und Weiterentwicklung von Existierendem – kann man sich den Wohlstand behalten. Das geht aber nur so lange gut, bis jemand kommt, der hungrig ist. Und im Silicon Valley oder beispielsweise auch in Israel gibt es sehr viele Unternehmen, die hungrig sind.

Facebook oder Google – zwei, die als besonders hungrig gelten – haben aber auch nicht ausschließlich bereichernde Dinge in die Welt gesetzt.
Nein, das stimmt. Diese Unternehmen haben auch negative Auswirkungen mit sich gebracht, der Begriff des Überwachungskapitalismus ist begründbar und mit manch Idee schaden die Plattformen Nutzern mehr, als sie ihnen nützen. Aber man muss hier auch differenzieren. Diese Firmen sind nicht von Grund auf schlecht, im Gegenteil: Sie gelten im Silicon Valley als tolle Unternehmen, die tolle Arbeitsplätze anbieten. Technologie per se ist außerdem neutral und kann positiv wie negativ verwendet werden.

Dennoch schlägt gerade Facebook im Zuge der „Black Lives Matter (BLM)“-Bewegung zurzeit eine Welle der Empörung entgegen. Prominente Anzeigenkunden wie Unilever, Coca-Cola oder Volkswagen haben Anzeigen storniert, weil sie auf der Plattform verbreiteten Hass nicht mehr tolerieren. Wie hart trifft das Facebook?
70 Prozent des Umsatzes macht Facebook mit derlei Werbung. Wenn solche Schwergewichte ausfallen – und einige Konzerne haben bereits angekündigt, die Werbung bis Jahresende auszusetzen –, trifft das Facebook. Und man sieht ja auch: Plötzlich bewegt sich Facebook auch selbst und ändert Dinge. Wie Twitter oder Twitch zuvor. Es ist also schon jetzt ein Vermächtnis der BLM-Bewegung, dass die großen Plattformen endlich tatsächlich auf „Hate Speech“ reagieren müssen.