Trotz einer dramatischen Nachtsitzung haben die EU-Staaten vorerst kein gemeinsames Corona-Rettungspaket zustande gebracht. Unterdessen warnte die EU-Kommission Insidern zufolge die Euro-Finanzminister, dass die Wirtschaft in der Eurozone dieses Jahr um bis zu zehn Prozent einbrechen könnte.
Die Europäische Zentralbank habe bei den mittlerweile abgebrochenen Verhandlungen erläutert, wegen der Coronavirus-Pandemie seien womöglich Hilfen im Volumen von 1,5 Billionen Euro nötig, sagten mehrere Regierungsvertreter.
Vertagt auf Donnerstag
Der Eurogruppen-Chef Mario Centeno vertagte die Sitzung der Finanzminister Mittwochfrüh nach 16 Stunden auf Donnerstag. Ein Kompromiss "sei noch nicht geschafft", schrieb Centeno auf Twitter. Der deutsche Finanzminister Olaf Scholz appellierte gemeinsam mit seinem französischen Amtskollegen Bruno Le Maire an seine EU-Kollegen: "In dieser schweren Stunde muss Europa eng zusammenstehen."
Es ging um ein "Sicherheitsnetz" im Umfang von rund 500 Milliarden Euro mit drei Elementen, um die Folgen der schweren Corona-Wirtschaftskrise gemeinsam zu bewältigen: vorsorgliche Kreditlinien des Eurorettungsschirms ESM, die besonders betroffenen Staaten zugutekommen könnten; ein Garantiefonds für Unternehmenskredite der Europäischen Investitionsbank EIB; und das von der EU-Kommission vorgeschlagene Kurzarbeiter-Programm namens "Sure".
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Unvereinbare Positionen
Scholz hatte vor der Videoschaltung mit seinen EU-Kollegen, die am Dienstag kurz nach 16.00 Uhr begann, für diese drei "Instrumente der Solidarität" geworben. Und diese schienen im Voraus auch im Kreis der Finanzminister weitgehend konsensfähig. Im Detail gab es dann dennoch Differenzen, die bis zum Schluss nicht überwunden werden konnten.
Am Mittwochmorgen standen sich nach Angaben mehrerer Teilnehmer vor allem Italien und die Niederlande mit unvereinbaren Positionen gegenüber. Die Niederlande hätten auf strikten Bedingungen für Kredite aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM bestanden, hieß es. Italien habe diese abgelehnt und zudem weiter auf Eurobonds beharrt.
Der ESM wurde 2012 auf dem Höhepunkt der Euroschuldenkrise gegründet. Gesichert durch Einlagen der Eurostaaten nimmt er Kredite am Kapitalmarkt auf und reicht sie unter bestimmten Auflagen an Staaten weiter, die selbst am Markt höhere Zinsen zahlen müssten oder keine Kredite mehr bekämen. Bei bisherigen Programmen etwa für Griechenland wurden strikte Sparprogramme und Strukturreformen gefordert.
Streitpunkt Coronabonds
Nun soll nach Auffassung der meisten Eurostaaten nur verlangt werden, dass das Geld zum Kampf gegen die Pandemie genutzt wird und künftig wieder fiskalpolitisch verantwortlich gehandelt wird. Die Niederlande verlangen indes spezielle Auflagen, die auf das jeweilige Land zugeschnitten sind. Nach Angaben aus Verhandlungskreisen war dies am Ende die höchste Hürde. "Den Haag hat sich leider nicht zu den notwendigen Kompromissen bei den Auflagen für die ESM-Hilfen durchringen können", sagte ein EU-Diplomat.
Zentraler Streitpunkt blieb darüber hinaus die gemeinsame Schuldenaufnahme über sogenannte Corona-Bonds oder auch Recovery Bonds. Zunächst beharrten Frankreich, Italien, Spanien und andere nach Angaben aus Verhandlungskreisen darauf, gemeinsame europäische Schuldtitel zumindest für Wiederaufbauprogramme nach der Pandemie zu erwähnen. Deutschland, die Niederlande und andere hätten dies abgelehnt, hieß es.
Dazu wurde nach Angaben von Teilnehmern eine Kompromissformel gefunden, die den politischen Streit vertagt hätte. Im Schlusspapier sollte nur noch die Rede sein von "innovativen Finanzinstrumenten" für den Wiederaufbau, deren Details man später klären wollte. Doch kam es dem Vernehmen nach nicht mehr zur Billigung dieser Klausel, weil man bei den ESM-Bedingungen nicht weiter kam. Die Positionen Deutschlands und Frankreichs hatten sich bei dieser Frage angenähert.
Molterer gegen Blankoschecks
Der Direktor des Europäischen Fonds für strategische Investitionen, Wilhelm Molterer, sagte der "Wiener Zeitung" am Mittwoch bezüglich der Debatte um Eurobonds: "Der Grundgedanke, dass auch Staaten mit schlechter Bonität Zugang zu den Kapitalmärkten haben, ist richtig. Aber das darf nicht dazu führen, dass alte Schulden hier hinein transferiert werden, und es darf keine Blankoschecks geben."
Das unmittelbare Krisenmanagement sei vorrangig Sache der Staaten, europäische Institutionen könnten hier nur unterstützen. Die zentrale gemeinsame europäische Aufgabe sieht er im Wiederaufbau der Volkswirtschaften: "Und hier haben wir bereits vier Säulen, die voll einsatzfähig sind: Die EZB hat eine Fülle an Möglichkeiten; die Mittel aus dem ESM; das EU-Budget etwa zur Unterstützung von Kurzarbeit; und die Europäische Investitionsbank über die Idee eines paneuropäischen Garantiefonds, der Kredite und Garantien an EU-Unternehmen in der Höhe von etwa 200 Milliarden vergeben kann."
Wohlhabender Norden, armer Süden
Für die Europäische Union ist die Hängepartie ein politisches Alarmzeichen: Die Klüfte sind tief, vor allem zwischen dem wohlhabenderen Norden und den von der Pandemie schwer gezeichneten Südländern wie Italien. Schon bei einem Videogipfel Ende März hatten die Staats- und Regierungschefs keinen Kompromiss gefunden und deshalb die Finanzminister mit der Lösungssuche beauftragt. Vorige Woche sagte Eurogruppen-Chef Centeno bereits, es gebe breite Unterstützung für das debattierte Paket mit den drei Punkten - doch nun klappte es immer noch nicht.
Von EU-Diplomaten hieß es, die Diskussion sei sehr hart gewesen. Auch Italien habe sich aber konstruktiv gezeigt. Der italienische Wirtschaftsminister Roberto Gualtieri schrieb auf Twitter, man bleibe dran. "Jetzt ist die Zeit für gemeinsame Verantwortung, für Solidarität und für mutige und gemeinsame Entscheidungen."