Fast jeder, der sich derzeit zum allumfassenden Thema Covid-19 öffentlich zu Wort meldet, betont, dass es sich um die größte Krise seit 1945 handelt.Das ruft geradezu nach einem Debattenbeitrag, denn diese Einschätzung ist aus wirtschafts- und sozialhistorischer Sicht so nicht ganz richtig. Die letzte schwere Pandemie traf uns vor 50 Jahren im Winterhalbjahr 1969/70. Es war die sogenannte Hongkong-Grippe. Auch wenn damals die Statistiken eher grob geführt wurden, geht man von mindestens einer Million Toten weltweit und von 40.000 Toten in der BRD aus. Diese Grippe war virologisch ein Ableger der großen Asiatischen Grippe, die 1957/58 in etwa ähnliche Opferzahlen forderte.
Für die Grippewelle 2017/18 – eine sehr heftige – wurden ausgehend von Zahlen des Robert-Koch-Instituts im Ärzteblatt für Deutschland präzisere Zahlen veröffentlicht. 3,8 Millionen Arztbesuche mit Symptomen, 182.000 labortechnisch bestätigte Grippefälle und 25.100 Tote, die direkt mit einer Grippeinfektion in Zusammenhang stehen. In Österreich weist die Virologie der MedUni Wien auf einen sehr langen Ausbruch zwischen den Kalenderwochen 50/2017 und 15/2018 hin, der auch massiv Kinder betroffen hat. Epizentrum war Wien. Die Schätzungen liegen bei 2800 Toten. Die Ärzte werden deshalb nicht müde, darauf hinzuweisen, wie ungemein unterschätzt das Problem Grippe tatsächlich ist, was wohl auf die fatale Namensähnlichkeit mit dem grippalen Infekt zurückzuführen ist.
Außerordentlich im historischen Vergleich seit 1945 ist also nicht die Tatsache einer Pandemie selbst, sondern die Reaktion darauf. Es steht einem medizinischen Laien nicht zu, über die Natur der Ursache, also die Krankheit selbst, zu urteilen. Man kann aber historische Vergleiche über das Verhalten einer Gesellschaft angesichts einer solchen Herausforderung ziehen. Hier ist eindeutig ein Wandel zu sehen: 1969 beispielsweise dachte niemand daran, einen derartigen Shutdown von Wirtschaft und Gesellschaft zu verordnen, obwohl man ebenfalls mit Herausforderungen konfrontiert war.
Was hat sich inzwischen verändert? Erstens ist ein Wandel in der Risikobereitschaft zu konstatieren. Sie ist höher, was den wirtschaftlichen Schaden betrifft, sie ist geringer, was menschliche Opferzahlen betrifft. Zweitens ist die Informationsdichte, die weltweite Abläufe unmittelbarer und transparenter werden lässt, enorm gestiegen. Klassische und soziale Medien liefern ununterbrochen in unterschiedlichsten Qualitäten und setzen damit politische Entscheidungsträger mehr denn je unter Druck. Karten, die für jeden sichtbar im Stundentakt über neue Infektions- und Todesfälle in fast jedem Land der Welt berichten, sind neu. Neu ist drittens auch, dass sich der Wert des Individuums offensichtlich deutlich gesteigert hat. Vormals „akzeptable“ Opferzahlen werden zunehmend als inakzeptabel empfunden. So positiv dieser praktisch kompromisslose humanistische Zugang einerseits ist, darf man andererseits eine Tatsache nicht vergessen: Jede Bekämpfung eines Risikos zieht andere Risiken nach sich. Es ist das historische Schicksal von Führungspersönlichkeiten, dass sie die Summe der Probleme nicht ausblenden können und dürfen und so unausweichlich zu einer Risikoabwägung gezwungen werden.
Welche dieser Risikopositionen lassen sich derzeit bereits recht klar erkennen? Erstens eine gesundheitliche Risikoposition, denn die Unterordnung aller Ressourcen unter das Thema Covid-19 führt zu einer Vernachlässigung all jener akuten und vorsorglichen Maßnahmen, die ja nicht von der Bildfläche verschwunden sind. Zweitens eine gesellschaftliche Risikoposition, denn die bewundernswerte Disziplin der Menschen wird bald erschöpft sein und die Politik sollte dann nicht der Versuchung erliegen, dauerhaft auf die so massive Einschränkung der persönlichen Freiheiten einer ganzen Nation zu setzen. Es sollte uns zu denken geben, wie gut diese Maßnahmen offensichtlich anderen Regierungen schmecken. Drittens eine politische Risikoposition, denn Krisen sind Brutstätten für Verschwörungstheorien, Radikalismen und krause Utopien, die ja bereits da und dort an die Oberfläche blubbern. Zum politischen Risiko gehört auch die Zukunft der EU, die zurzeit in einem außerordentlichen Maße kaltgestellt ist. Viertens ist die wirtschaftliche Risikoposition zu nennen, die bereits kurzfristig das Potenzial in sich trägt, die Gesellschaft in einem historischen Maß schmerzvoll nach unten zu ziehen.
Im wirtschaftshistorischen Vergleich waren wir seit 1945 tatsächlich noch nie mit so umfassenden behördlichen Schließungsmaßnahmen konfrontiert, die gleichzeitig einen heftigen Angebots- sowie Nachfrageschock bewirken. Aber wir haben grundsätzlich historische Erfahrungen mit der Dynamik von Krisen und mit Maßnahmen, die besonders positiv oder negativ wirken, insbesondere mit Blick auf die Weltwirtschaftskrisen ab 1929 und ab 2008.
An erster Stelle wäre hier der zentrale Begriff des Vertrauens zu nennen. Krisen wirken sich erst dann katastrophal aus, wenn Kreditgeber nicht mehr an die Zahlungsfähigkeit der Schuldner glauben, wenn die Kunden nicht mehr an die Liquidität einer Bank glauben oder wenn Lieferanten nicht mehr daran glauben, dass ihre Kunden die Produkte auch bezahlen, weil niemand mehr an die Zukunft des anderen glaubt. Hier ziehen derzeit ganz düstere Wolken auf, denn es wird vielen Unternehmen ja per Verordnung verboten, Umsätze zu machen. Wie sollen sie da ihren Verpflichtungen nachkommen? Jede politische Ankündigung, das könne noch lange dauern, nährt die Zweifel. Die gigantischen Schutzschirme, die versprochen werden, helfen genau so viel, wie direkte Liquidität schnell in Firmen ankommt. Österreich verheddert sich derzeit in bürokratischen Fragen, hoffentlich nicht zu lang.
Bei nachfrageseitigen Maßnahmen (Stärkung des Konsums), sonst das Herzstück konjunkturstützender Maßnahmen, muss anders als bei vorherigen Krisen gedacht werden. Jede noch so gut gemeinte Maßnahme nützt derzeit nicht, denn die Menschen können dieses Geld höchstens jenen Internetplattformen und Großhändlern geben, die derzeit ohnehin Hochkonjunktur haben. Der Rest schaut durch die Finger. Positiv in Österreich ist, dass die Arbeitnehmer-Vertretung um dieses Dilemma weiß und auch die Emotionalität von 2008 nicht aufkommt. Damals agierten die Gewerkschaften angesichts der Spekulationskrise sehr pauschal mit dem Schlachtruf: „Wir zahlen nicht für eure Krise!“ Heute ist das Bewusstsein für eine Schicksalsgemeinschaft viel größer. Auf die Idee einer Austeritätspolitik wie 1929 kommt sowieso niemand mehr.
Die bittere Wahrheit ist: Im Bett wird der Patient Wirtschaft nicht genesen können. Der raschen Bereitstellung von Liquidität muss eine „bail-out“-Strategie aus dem derzeitigen Stillstand folgen. Wir sprechen hier von zwei bis drei Wochen, in denen gehandelt werden muss. Eine Illusion wäre der Glaube, dass man danach quasi ansatzlos in den Normalmodus wird überwechseln können. Erfahrungsgemäß ist die Situation mit einem riesigen Stau nach einem Unfall zu vergleichen. Wenn der Erste sich bewegt, dauert es noch lange, bis sich die ganze Kolonne in Bewegung gesetzt hat.
Wie soll es weitergehen? Erstens: Die Schwere der derzeitigen Krise ist nicht einzigartig und das soll uns Mut geben, denn warum soll ausgerechnet unsere Generation an so einer Aufgabe scheitern? Zweitens: Wir dürfen nicht eindimensional agieren. Covid-19 ist ein Risiko, aber wir haben auch mit anderen Risiken zu tun, die wir nicht vernachlässigen dürfen. Drittens: Historisch ist die Logik von wirtschaftlichen Krisenprozessen gut beschrieben und sie sind gerade dabei, in Gang zu kommen.
Thomas Krautzer