Mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU am 31. Jänner beginnt das nächste Kapitel des Scheidungsstreits. Innerhalb weniger Monate soll dann neu geordnet werden, was in 47 Jahren EU-Mitgliedschaft der Briten aufgebaut wurde. Ein Überblick, was in den Verhandlungen über die künftige Beziehung zwischen Brüssel und London zu erwarten ist:
Keine Fristverlängerung
Um einen harten Schnitt zu vermeiden, ist im Austrittsabkommen Großbritanniens mit der EU eine Übergangsphase vorgesehen, innerhalb derer zunächst alles bleibt wie gehabt. Dieses Zeitfenster, um die künftigen Beziehungen neu zu regeln, hat sich jedoch deutlich verkleinert: Der Brexit war in der Vergangenheit mehrmals verschoben worden, nicht aber das Ende der Übergangsphase.
Die Regierung in London könnte eine Verlängerung über das Jahr 2020 hinaus bis Ende Juni noch beantragen, Premierminister Boris Johnson schließt dies jedoch kategorisch aus. Mittlerweile wird auch in Brüssel nicht mehr damit gerechnet, dass Johnson noch umschwenkt. Der 31. Dezember 2020 stünde damit als nächster Stichtag fest. Gibt es dann kein Handelsabkommen, droht erneut ein harter Brexit.
Beschränktes Abkommen
Verhandlungen der EU über ein umfassendes Freihandelsabkommen dauern im Normalfall Jahre. Für das Abkommen mit Großbritannien bleiben noch elf Monate. Davon bleiben de facto nur acht übrig, wenn eingerechnet wird, dass die EU nach dem 31. Jänner noch ihre Vorgaben für die Unterhändler festlegen und ein eventueller Text nach Abschluss der Verhandlungen am Ende noch ratifiziert werden muss.
"Am Ende des Jahres könnten wir das Gerippe eines Handelsabkommens plus etwas zur inneren und äußeren Sicherheit bekommen", schätzt ein EU-Diplomat. Sicher sei auch das nicht. Dienstleistungen, Finanzgeschäfte, Daten- und Investitionsschutz - für all diese Bereiche sei indes definitiv mehr Zeit nötig.
Harte Fronten
Erschwerend kommt hinzu, dass Premierminister Johnson auf Konfrontationskurs zu sein scheint. Seine Vorgängerin Theresa May hatte sich stets für eine enge Bindung Großbritanniens an die EU ausgesprochen. Ginge es nach ihr, würden EU-Vorgaben etwa beim Umweltschutz oder staatlichen Beihilfen weiter gelten, um britischen Unternehmen den Zugang zum europäischen Binnenmarkt zu sichern.
Auch Johnson will keine Zölle und andere Handelshemmnisse, an europäische Vorgaben will er sich aber nicht halten. "Er scheint Großbritannien von Europa wegführen zu wollen", analysiert der britische EU-Abgeordnete der Labour-Partei, Richard Corbett. Den Hardlinern in der Konservativen Partei seien europäische Verbraucher-, Sozial- und Umweltschutzstandards ein Dorn im Auge.
Ein Freihandelsabkommen ohne Angleichung von Standards und Normen sei natürlich möglich, aber dann müsse an den Grenzen eben kontrolliert werden, sagt der Vorsitzende des Handelsausschusses des EU-Parlaments, Bernd Lange. Besonders bei Tieren und tierischen Produkten wäre dies eine große Belastung: Für derartige Importe aus Drittstaaten sei eine Kontrollquote von 100 Prozent vorgeschrieben, unterstreicht Lange.
EU-interner Zwist
Eine weitere Möglichkeit wäre eine lose Vereinbarung zwischen Brüssel und London und darauf aufbauende separate Abkommen etwa für bestimmte Sektoren oder sogar Produkte. Auf diese Weise ist aktuell die Beziehung der EU zur Schweiz geregelt. Wegen seiner komplexen Struktur gilt das Schweiz-Modell vielen aber als abschreckendes Beispiel.
Einen kleinteiligen Ansatz will die EU zudem verhindern, weil die Mitgliedstaaten in den Beziehungen zu Großbritannien unterschiedliche Interessen haben. Frankreich oder Dänemark etwa ist der Zugang ihrer Fischer zu britischen Hoheitsgewässern wichtig. Für Deutschland und einige östliche Mitgliedstaaten haben barrierefreie Zulieferketten für die Autoindustrie Priorität.
EU-interner Streit wäre da wohl programmiert. Johnson stelle mit seiner Verhandlungsstrategie erneut die europäische Einheit auf die Probe, heißt es aus Diplomatenkreisen.
Wie es jetzt weitergeht
Nach dem 31. Jänner beginnen äußerst schwierige Verhandlungen über die künftigen Beziehungen. Ein Überblick:
29. Jänner 2020
Das Europaparlament stimmt über den Brexit-Vertrag ab (18.00 Uhr). Damit wäre der Ratifizierungsprozess auch auf EU-Seite abgeschlossen. Nationale Parlamente müssen den Vertrag nicht billigen.
31. Jänner 2020
Um Mitternacht mitteleuropäischer Zeit endet die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens (23.00 Uhr britischer Zeit).
1. Februar 2020
Nun beginnt eine Übergangsphase bis mindestens Ende 2020. Großbritannien bleibt vorerst noch im Binnenmarkt und in der Zollunion. Diese Periode wollen beide Seiten nutzen, um die künftigen Beziehungen und insbesondere ein Freihandelsabkommen auszuhandeln.
10.-13. Februar
Das Europaparlament will bei seiner Plenarsitzung in Straßburg in einer Entschließung seine Position zu den Verhandlungen mit Großbritannien festlegen.
25. Februar 2020
Die EU-Europaminister verabschieden das Mandat für die Verhandlungen über die künftigen Beziehungen. Die Gespräche über ein Handelsabkommen könnten damit im März starten. Für die Europäische Union werden sie wie schon die Austrittsverhandlungen von dem Franzosen Michel Barnier geführt.
1. Juli 2020
Die britische Regierung muss bis zu diesem Termin entscheiden, ob sie die Verhandlungsphase für das Handelsabkommen über Ende 2020 hinaus verlängert. Nach den Bestimmungen im Austrittsvertrag ist dies einmal für ein oder zwei Jahre möglich - also bis Ende 2021 oder Ende 2022. Johnson hat eine Verlängerung aber kategorisch ausgeschlossen und dies auch in das britische Austrittsgesetz schreiben lassen.
"Nach Kräften" wollen sich die EU und Großbritannien dafür einsetzen, schon bis zu diesem Termin ein Fischereiabkommen zu schließen. Damit soll laut der politischen Erklärung beider Seiten zu den künftigen Beziehungen sichergestellt werden, dass rechtzeitig "die Fangmöglichkeiten für das erste Jahr nach dem Übergangszeitraum" festgelegt werden können.
Oktober/November 2020
Ohne Verlängerung müssen die Verhandlungen jetzt abgeschlossen sein, um die Vereinbarung noch zu ratifizieren. Geht es um ein reines Handelsabkommen, muss auf EU-Seite nur das Europaparlament zustimmen. Sind aber auch Bereiche wie Dienstleistungen, Finanzgeschäfte, Daten- oder Investitionsschutz enthalten, könnte auch das grüne Licht der nationalen - und je nach Mitgliedstaat - sogar regionaler Parlamente nötig sein.
31. Dezember 2020
Ist das Freihandelsabkommen verabschiedet, scheidet Großbritannien zum Jahresende auch aus dem Binnenmarkt und der Zollunion aus. Damit wären die letzten direkten Verbindungen aus 47 Jahren britischer EU-Mitgliedschaft endgültig gekappt. Über viele Bereiche dürfte es aber weitere Verhandlungen geben, da diese in der kurzen Zeit bis Ende 2020 nicht alle geregelt werden können.
"Restrisiko" für harten Brexit
Der Vorsitzende des Handelsausschusses des EU-Parlaments, Bernd Lange (SPD), hat Großbritannien davor gewarnt, die Verhandlungen über ein künftiges Handelsabkommen mit der EU für politische Manöver zu nutzen. Der rechtzeitige Abschluss eines Handelsabkommens sei möglich, sagte Lange der Nachrichtenagentur AFP.
Aber nur, "wenn beide Seiten es ernst meinen". Es gebe weiterhin "ein Restrisiko, dass auf der britischen Seite mit dem harten Brexit gespielt wird". Was den Zeitplan angeht, ist der SPD-Politiker Lange zumindest in Hinblick auf ein grundlegendes Abkommen dennoch zuversichtlich: "Wir haben ja sonst immer bei Handelsverträgen die Situation, dass wir zwei unterschiedliche Volkswirtschaften haben, die angeglichen werden sollen." Im jetzigen Fall gehe es aber darum, von der EU-Mitgliedschaft ausgehend mögliche künftige Unterschiede zu definieren.
Dass die künftige Beziehung zwischen Großbritannien und der EU bis Ende dieses Jahres nicht vollständig ausgehandelt werden könne, sei allerdings auch klar, sagte der Handelsexperte. Um über den reinen Handel hinausgehende Bereiche wie etwa Finanzgeschäfte oder Investitionsschutz abzudecken, reiche die Zeit nicht aus.
Briten könnten hohe Zölle androhen
Die britische Regierung könnte einem Zeitungsbericht zufolge mit hohen Zöllen auf europäische Produkte drohen, um nach dem Brexit schnell ein Handelsabkommen mit der EU abzuschließen. Premierminister Boris Johnson und seine Minister hätten die Möglichkeit erörtert, hohe Zölle als "Hebel" für eine Beschleunigung der Handelsgespräche zu nutzen, berichtete die Londoner "Times".
Im Ergebnis könnten bestimmte französische Käsesorten mit 30 Prozent und deutsche Autos mit zehn Prozent besteuert werden.