Anhaltend schwacher Preisdruck und aus dem Ruder laufende Inflationserwartungen: Bei der Europäischen Zentralbank (EZB) machen sich die Währungshüter inzwischen ernsthaft Gedanken, ob das seit Jahren verfehlte Inflationsziel von knapp unter zwei Prozent nicht überarbeitet werden muss.
EZB-Chef Mario Draghi will mehr Handlungsspielraum für die Geldpolitik und hat dazu am Donnerstag überraschend ein neues Schlüsselwort benutzt: Symmetrie. Volkswirten zufolge will er damit sagen, dass die EZB eine aus Notenbanksicht zu tiefe Inflation gleichermaßen stark bekämpfen muss wie eine zu hohe Teuerung. Für Experten ist das ein deutlicher Hinweis, dass womöglich noch viel länger mit der vor allem in Deutschland ungeliebten Krisenpolitik zu rechnen ist. Es war das erste Mal, dass Draghi sich nach einem Zinsbeschluss so ausdrückte.
Historischer Schritt
"Obgleich diese Debatte für manche Beobachter rhetorisch klingen könnte, sehen wir diese Änderung als großen historischen Schritt der EZB unter Draghi an", sagt Notenbank-Experte Frederik Ducrozet vom Schweizer Bankhaus Pictet. Er bedeute, dass die Geldpolitik noch lockerer gestaltet werde müsse und das für eine noch längere Zeit. Sein Kollege Ulf Krauss, Volkswirt beim Bankhaus Helaba, sieht das ähnlich. "Die EZB gibt sich damit mehr Spielraum, um in der Geldpolitik womöglich noch aggressiver voranzuschreiten."
Ein symmetrisches Inflationsziel erfordert, dass die Notenbank gleichermaßen reagiert, wenn die Inflation zu hoch ist, aber eben auch wenn sie zu niedrig ist. Dabei dient der angestrebte Wert von knapp unter zwei Prozent wie eine Symmetrieachse, um die sich alles dreht: Die Währungshüter müssen versuchen, Ausreißer bei der Inflationsrate wieder auf diese Achse hinzuführen.
Die Euro-Notenbank verfehlt allerdings ihr Ziel bereits seit Frühjahr 2013. Trotz billionenschwerer Anleihenkäufe und immer tieferer und sogar negativer Schlüsselzinsen ist es ihr nicht gelungen, nachhaltig zur Zielmarke vorzustoßen. Im Juni lag die Rate lediglich bei 1,3 Prozent. Volkswirte sind inzwischen sogar skeptisch, ob sie es selbst auf lange Sicht schaffen kann. Von der EZB befragte Ökonomen rechnen für das Jahr 2024 derzeit nur mit 1,7 Prozent Inflation. Auch die Inflationserwartungen an den Börsen sprechen eine deutliche Sprache. Ein viel beachtetes Barometer für die Erwartungen ab 2024 stand zuletzt nur bei 1,35 Prozent.
Preise weltweit unter Druck
Die EZB steht mit diesem Problem allerdings nicht alleine da. Auch die US-Notenbank Fed und die Bank von Japan haben trotz jahrelanger ultraexpansiver Ausrichtung ihre Inflationsziele nicht dauerhaft erreicht. Die Digitalisierung der Wirtschaft und die zunehmende globale Vernetzung drücken weltweit auf die Preise. Die Vorschläge für eine Änderung der geldpolitischen Strategie reichen von einer vorsichtigen Anpassung der Ziele bis hin zu radikalen Paradigmen-Wechseln.
Ein Totalumbruch wird von den Vertretern der sogenannten Modern Monetary Theory (MMT) in den USA propagiert. Diese geht davon aus, dass Länder mit eigener Währung immer die Notendruckpresse anwerfen können, um Schulden zu bedienen. Dies wird von den allermeisten Notenbank-Experten allerdings als Irrweg angesehen.
Keine Obergrenze für die Inflation
Am Donnerstag sprach Draghi auch davon, dass es keine Obergrenze für die Inflation bei zwei Prozent gibt. Die Teuerung könne in beide Richtungen etwas davon abweichen. Für BayernLB-Volkswirt Johannes Mayr markiert dies eine ganz entscheidende Änderung. "Das heißt nichts anderes, als dass die Notenbank künftig auch ein gewisses Überschießen des Inflationsziels zulassen möchte." Sie müsste also nicht sofort eingreifen, wenn der Anstieg der Verbraucherpreise einmal mehr als zwei Prozent beträgt. Damit würde der Kurs noch expansiver. "Denn damit können sie den Fuß noch länger auf dem Gas halten, auch wenn sich die Inflationsrate bereits etwas über der Zielmarke befinden sollte."
Doch was ist, wenn die Inflation in Zeiten der allgegenwärtigen Internetwirtschaft und Automatisierung auch mit geldpolitischen Billiarden-Spritzen der Notenbankern gar nicht mehr nach oben zu treiben ist, weil sich ein mit der Digitalwirtschaft zusammenhängender Paradigmen-Wechsel abzeichnet? Diese Angst beschleicht nicht nur Fachleute außerhalb der Notenbank, sondern treibt auch bereits manche Währungshüter um. Laut Draghi gibt es im EZB-Rat inzwischen die Wahrnehmung, dass das Ziel überdacht werden sollte - mehrere Euro-Wächter hätten sich dafür ausgesprochen.
Finnlands Notenbank-Chef Olli Rehn hatte sich schon vor Monaten für eine Reform der geldpolitischen Strategie starkgemacht. Er fordert eine Überprüfung im Lichte der aktuellen Forschungsergebnisse. Die letzte größere Überarbeitung des Inflationsziels fand bei der EZB im Jahr 2003 statt.