Spricht man heute über die Ausbreitung von Informationen in „sozialen Netzwerken“ à la Facebook, Twitter & Co., zieht man gerne Parallelen zu Epidemien.
„Ich versuche, völlig anders zu argumentieren“, erklärt indes Kristina Lerman im Gespräch mit der Kleinen Zeitung. Und ergänzt rasch: „Als wir uns in Studien verfügbare Daten zu Informationen in Netzwerken ansahen, fanden wir heraus, dass diese sich gar nicht sehr weit verbreiteten. Selbst die viralsten erreichten nur einen sehr kleinen Teil der Population, maximal fünf Prozent.“
Die "Mehrheitsillusion"
Warum aber stellt sich die Gefühlslage für einzelne Nutzer dann gänzlich anders dar? Und was kann dieser Effekt mit Gesellschaften machen? Willkommen in der Forschungswelt von Kristina Lerman. Die Wissenschaftlerin der University of Southern California zählt zu den zurzeit weltweit gefragtesten Netzwerkforschern, jüngste Arbeiten von ihr wurden in renommierten Publikationen wie der „Washington Post“, dem „Wall Street Journal“ oder dem „MIT Tech Review“ ausführlich behandelt.
Warum die Forscherin in Tagen wie diesen so gefragt ist? Lerman und ihr Team berechnen unter anderem, wie digitale Medien dazu beitragen, aus einer Minderheitenmeinung eine Mehrheitsmeinung zu machen.
„Mehrheitsillusion“ nennt Lerman diesen heiklen Effekt. Ihre zentrale These: Die Struktur von sozialen Netzwerken begünstige eine massiv verzerrte Beobachtung von Freunden. Einzelne Minderheitsmeinungen oder Minderheitsverhalten würden systematisch überschätzt, die Annahme von sozialen Normen beschleunigt.
Arabischer Frühling
Im Interview illustriert die Wissenschaftlerin ihre These anhand des Arabischen Frühlings, also jener politischen Widerstandsbewegung, die 2010 in Tunesien begann.
„Wenige Leute demonstrierten zu Beginn wirklich auf der Straße“, erinnert sich Lerman. „Aber diese wenigen waren mit vielen anderen digital verbunden, connected. Bei vielen Menschen entstand also das Gefühl: ‚Oh, alle meine Freunde demonstrieren.‘ Das kann wiederum dazu geführt haben, dass sie wirklich auf die Straße gingen.“
Darüber hinaus forscht Lerman zu Phänomenen, die Mehrheitsillusionen zusätzlich verstärken. Das Freundschaftsparadoxon ist eines davon und besagt, dass eigene Kontakte meist mehr Freunde haben als man selbst. Wer sich noch intensiver mit der Arbeit der Wissenschaftlerin auseinandersetzen will: Am Mittwoch spricht Kristina Lerman im Rahmen der Veranstaltungsreihe „CS Talks“ ab 17 Uhr am Campus Alte Technik der TU Graz. Mit Sicherheit ist der Termin auch keine Illusion, versprochen.