Es ist die Gretchen-Frage im Online-Handel: Müssen Unternehmen wie Amazon ihre Angestellten bezahlen wie Einzelhändler? Das wollen Gewerkschafter in Deutschland mit Streiks erreichen. Doch mit dieser Forderung bringen sie nach Expertensicht Jobs in Gefahr.
Wenn bei Amazon gestreikt wird, wirkt das mittlerweile wie eine einstudierte Choreographie. Amazon beteuert sofort, dass der Streik rein gar keine Auswirkungen auf das "Kundenversprechen" habe. Die deutsche Gewerkschaft Verdi teilt mit, dass die Abläufe in den Logistikzentren sehr wohl gestört würden.
Seit 2013 geht das nun immer wieder so - und manch ein Beobachter gewinnt den Eindruck, dass die Gewerkschaft sich an dem Online-Riesen die Zähne ausbeißt. Ein Tarifvertrag nach Vorbild des Einzelhandels, so wie Verdi das fordert? Scheint kaum realistisch. Doch ist dieser Wunsch überhaupt angemessen? Und ist die Arbeit in den riesigen Lagerhallen wirklich so schlimm, wie es bei Verdi klingt?
Ruhige Atmosphäre
Auf den ersten Blick wirkt Amazon äußerst bemüht um das Wohlergehen seiner Angestellten. Besuch im Logistikzentrum Leipzig, mitten im Weihnachtsgeschäft, das hier schon im Oktober begonnen hat: Täglich geht derzeit knapp eine halbe Million Produkte ein, die in die Regalfächer auf vier Stockwerken einsortiert werden müssen. Eine dritte Halle wird für die Saison eigens in Betrieb genommen.
Doch trotz des Ausnahmezustands herrscht hier eine ruhige Atmosphäre. Einige Angestellte absolvieren zu Schichtwechsel Dehnübungen - unter Anleitung eines Team-Mitglieds. An Treppen ermahnen Schilder dazu, sich am Geländer festzuhalten. Und auf den Toiletten erinnert eine Urin-Farbskala daran, genug zu trinken.
Laut Verdi kommen solche Maßnahmen bei den Mitarbeitern aber nicht als fürsorglich an, sondern wie Bevormundung. Die Krankheitsrate bei Amazon sei trotzdem dreimal höher als im Schnitt der deutschen Wirtschaft - wegen eines "übertriebenen Leistungsdrucks". Und weil die Mitarbeiter von Computern gesteuert durch die Gänge gejagt würden, sagt Thomas Voß, der bei der Gewerkschaft für den Versand- und Onlinehandel zuständig ist. Daneben sei der Lohn zu niedrig, nach zwei Jahren gebe es auch keine Steigerungsmöglichkeiten mehr. Am Ende läuft alles auf die Kernforderungen hinaus: mehr Mitbestimmung und ein Tarifvertrag sollen her.
Zusatzleistungen für Angestellte
Amazon selbst sieht sich auch ohne Tarifvertrag als guten Arbeitgeber. "Wir zahlen absolut wettbewerbsfähige und gute Löhne", sagt der Leipziger Standortleiter Dietmar Jüngling. Nach zwei Jahren bekomme ein Mitarbeiter etwa 30.000 Euro brutto pro Jahr. Daneben biete das Unternehmen Zusatzleistungen: zum Beispiel bekämen Angestellte Amazon-Aktien, eine kostenlose Lebens- und Berufsunfähigkeitsversicherung sowie einen Familienbonus.
Ein Tarifvertrag passe nicht zu dem Unternehmen. Solche Verträge seien ausgelegt auf Mitarbeiter mit einschlägiger Ausbildung, sagt Jüngling. "Wir haben aber viele Mitarbeiter, die nicht in dieses starre Schema passen." Das Unternehmen sei agil, probiere immer wieder Neues aus. "Wir wollen kontinuierlich nach vorne schauen", sagt der Standortleiter. Verdi dagegen sei von der Tendenz eher "beharrend". Man habe am Anfang miteinander gesprochen, aber schnell festgestellt, dass die Gewerkschaft nicht zu Amazon passe.
Handel oder Logistik
Über diesen Unstimmigkeiten steht die Frage, die für den Handel der Zukunft von entscheidender Bedeutung sein dürfte: Ist der Branchen-Primus Amazon mit seinen zuletzt rund 12.000 festangestellten Lager-Mitarbeitern nun ein Einzelhandelsunternehmen? Und müssen Amazon und andere Online-Händler dementsprechend besser bezahlen als reine Logistiker? Für Verdi ist die Sache klar: Amazon liefere Einzelprodukte an einzelne Kunden, also: ja.
Der Handelsforscher Gerrit Heinemann von der Hochschule Niederrhein sieht das differenzierter. Die deutliche Mehrheit der Amazon-Angestellten arbeite in klassischer Logistiktätigkeit, sagt er. Das spreche gegen eine Bezahlung nach Maßstäben des Einzelhandels. Andere Online-Händler entlohnten ihre Mitarbeiter im Übrigen auch als Logistiker. "Das ist nichts Amazon-Spezifisches."
Die Verdi-Forderungen sieht Heinemann kritisch: "Amazon wird darauf definitiv nicht einschwenken", sagt er. Stattdessen werde das Unternehmen die Automatisierung vorantreiben. "Verdi wird damit eher Arbeit verdrängen." Am niedersächsischen Standort Winsen setzt Amazon schon auf Lagerroboter. Eine Lösung des Konflikts sei nicht absehbar. Verdi hat übrigens bereits angekündigt, auch jetzt im Weihnachtsgeschäft zu Streiks aufrufen zu wollen.
Violetta Kuhn/dpa