"Ich muss bestätigten, es herrscht Chaos in Bezug auf die Abwicklung des Brexit", sagte Ewald Nowotny am Dienstagabend bei einem Vortrag auf Einladung der Österreich-Britischen Gesellschaft (ABS) in Wien. Diese Einschätzung traf das EZB-Mitglied nach einem "ein paar Tage" dauernden Besuch in Cambridge und London in der Vorwoche. "Die Dinge sind unterwegs, aber in einer ungeordneten Weise", so Nowotny.
Der Abzug von Leuten aus dem Bankenbereich habe in London schon begonnen, so Nowotny, und verwies nochmals auf die Bereitschaft von Österreich, die derzeit noch in London angesiedelte Europäische Bankenaufsichtsbehörde (EBA) nach Wien zu bringen.
Was ihn sehr beschäftige und bedrücke, sei die Übereinstimmung zwischen der Brexit-Abstimmung und dem US-Wahlkampf, führte Nowotny aus. In beiden Fällen handle es sich um eine "postfaktische" Diskussion: "Man kann soviel diskutieren wie man will, aber es hat keinen Erfolg". Es gebe eine "Perzeptionsverweigerung". Wie man damit umgehen sollte, sei schwer zu sagen und auch für die Arbeit der Nationalbank eine der Lehren. Gemeinsam sei auch, dass sich eine Aversion und ein Misstrauen gegen die Eliten und das Establishment gezeigt habe. "Es ist ein Gemisch aus vielen Elementen, dass uns zu denken gibt", so der Gouverneur.
"Spezielle Beziehung" zu den USA
Aus europäischer Perspektive sollte man den Brexit nicht unterschätzen. Es sei immerhin das erste Mal, dass ein EU-Staat austreten wolle, und dazu noch ein großer. Das trage zu einer höheren Verletzbarkeit der EU bei.
Laut Nowotny gibt es wegen des Brexit eine spezielle Besorgnis von der deutschen Seite her, weil ihnen in der EU ein großer Gesprächspartner verloren ginge. Mit dem verbliebenen alleine - Frankreich - werde es sich schwerer tun. Deshalb vertrete Deutschland in Bezug auf die Brexit-Verhandlungen auch eine eher entgegenkommende Politik. Es gebe also hinsichtlich des Brexit in der EU unterschiedliche Interessen.
Nach der Wahl von Donald Trump zum neuen US-Präsidenten sei auf Grund der "speziellen Persönlichkeit" von Trump eine "spezielle Beziehung" zwischen Großbritannien und den USA eher auszuschließen. Dadurch würde es zu einer Verschlechterung der Position Großbritanniens kommen, so Nowotny.
Langfristiger Wachstumsverlust in Sicht
Wirtschaftlich werde der Brexit für den Euroraum nur geringe Effekte haben, für Großbritannien selbst sei dagegen ein großer Einbruch zu erwarten, der aber geringer, als ursprünglich befürchtet ausfallen dürfte. Langfristig dürfte es zu einem Wachstumsverlust führen.
Was die möglichen Austrittsszenarien betrifft, wies Nowotny darauf hin, dass die Europäische Zentralbank (EZB) schon erklärt habe, "Austritt ist Austritt". Wichtig sei der EZB, die Euro-Clearinghäuser in Länder der Eurozone zu verlagern. Der Bankbereich werde zwar am stärksten betroffen sein, aber auch hier gebe es unterschiedliche Interessenslagen.
Noch einen Vorteil sieht Nowotny nach einem Austritt von Großbritannien aus der EU: Es werde dann leichter, die Steueroasen innerhalb der EU trockenzulegen.