Die Demonstranten tragen ihr Land schon zu Grabe. Eingehüllt in die gelb-blau-rote Flagge Venezuelas schleppen sie einen riesigen Sarg durch die Straßen. Sie demonstrieren gegen immer aberwitzigere Zustände - die Inflationsrate dürfte in diesem Jahr zwischen 120 und 220 Prozent liegen, eine der höchsten der Welt.
Das verschärft auch Venezuelas Dauerproblem: die Gewalt. Da nicht hingehen, dort nicht hin. Denn es könnte ja überall der Tod lauern, so hört es fast jeder Besucher. Willkommen in Caracas. Mit 116 Morden pro 100.000 Einwohner rangiert die Hauptstadt auf Rang zwei der weltweit gefährlichsten Städten, hat die Organisation "Seguridad Publica y Justicia" ermittelt. Seit Jahren hat Caracas dieses miese Image. Neu ist: Die Inflation gerät immer stärker außer Kontrolle - und die Ölmacht könnte zum "Failed State" werden, fürchten Experten.
Der offizielle Wechselkurs des US-Dollars zum Bolivar ist derzeit 1:6,30. Doch wer noch Dollars hat, versucht die schwarz zu tauschen. Dieser Kurs beträgt laut der Seite "DolarToday" derzeit 1:691,49 Bolivar, liegt also über hundertmal so hoch. Das führt zu der abenteuerlichen Situation, dass man in Restaurants mit dem Schwarzmarktkurs für zwei Euro essen kann, mit dem offiziellen Kurs bei Kreditkartenzahlung aber über 200 Euro anfallen. Analysten sind überzeugt, dass gerade Regierungsvertreter durch den Handel mit Dollars und Zugang zu Wechselkursgeschäften von dem System sogar noch finanziell profitieren.
Das Hauptproblem: der Absturz des Ölpreises. Das Land sitzt auf den größten Reserven weltweit - aber das allein hilft gerade wenig. "Etwa 60 Prozent des Staatshaushalts werden durch die Ölrente bestritten, die im Haushaltsjahr 2015 um etwa die Hälfte einbrechen wird", warnte die Konrad-Adenauer-Stiftung schon vor Monaten, ein Kollaps drohe. Das Land hat wenig Devisenreserven - und kann somit Importe von Lebensmitteln, Medikamenten und Hygieneartikeln kaum noch bezahlen.
"Humanitäre Katastrophe droht"
Die Folge: leere Regale, steigende Schwarzmarktpreise, Plünderungen von Supermärkten, in diesem Jahr bereits 56, zudem wurden vom Institut zur Überwachung sozialer Konflikte 2836 Protestkundgebungen gezählt. Der jüngste Report der International Crisis Group ist ein einziger Alarmruf: "Wenn nicht schnell und entschieden gehandelt wird, droht eine humanitäre Katastrophe mit erschütternden Auswirkungen, nicht nur auf die heimische Politik und Gesellschaft, sondern auch auf die Nachbarstaaten." Die Krise resultiere aus "falschen politischen Entscheidungen, Inkompetenz und Korruption".
Aber die Krise ist hier nicht erst seit Nicolas Maduro Dauerzustand. Der sozialistische Präsident - ein früherer Busfahrer, wie seine Gegner spöttisch bemerken - wirkt nervös. Er droht dem Nachbarland Guyana im Streit um Ölfelder und schüchtert die Opposition ein. Die führenden Oppositionspolitiker Leopoldo Lopez und Daniel Ceballos sind unter höchst fragwürdigen Umständen inhaftiert. "Wenn meine Gefangenschaft dazu führt, dass das Volk aufwacht, damit am Ende Venezuela wieder aufsteht, dann hat es sich gelohnt", so Lopez.
Zum Schlüsselmoment dürften die Parlamentswahlen am 6. Dezember werden, ein Oppositionssieg könnte Maduro Fesseln anlegen - per Hungerstreik hatten Lopez und Ceballos die Festsetzung eines Wahltermins gefordert. Bei einem Oppositionssieg droht Maduro mit einer "Konterrevolution" - er will das Erbe des verstorbenen Hugo Chavez verteidigen. Doch selbst bei den Ärmsten, die mit üppigen Sozialprogrammen gefördert wurden, bröckelt der Rückhalt. Und ungewiss ist auch die Rückendeckung für Maduro innerhalb der regierenden Partido Socialista Unido de Venezuela (PSUV).
Anruf bei einem Kenner der politischen Szene in Venezuela - er will anonym bleiben. "Hier ist gerade alles und nichts möglich, eine sehr, sehr heikle Situation." Will heißen: weitere Agonie oder Eskalation. "Das ist ein Mafia-Land geworden, es zählt das Gesetz des Stärkeren."
Der Historiker Christian Cwik, an der Universität St. Augustine in Trinidad und Tobago tätig, ist ein profunder Kenner des Landes. Letztens reiste der Österreicher vom Amazonasgebiet über Santa Elena nach Venezuela - und machte eine besondere Erfahrung. "Da stehen die Geldwechsler, und der ganze Kofferraum ist voller Geld, man braucht 30 Minuten, um die ganzen Geldbündel zu zählen." Noch so ein Problem: Wer sackweise Geld rumschleppen muss, lebt erst recht gefährlich.
"Failed State mit mafiösen Strukturen"
"Das Land ist so langsam verloren. Ein Failed State mit mafiösen Strukturen", meint Cwik. Aber er warnt davor, die jetzige Situation als beispiellos darzustellen. Seit langem sei es ein krisenhaftes Land. "Ich glaube nicht, dass sich das bei einem Sieg der sogenannten Opposition ändern würde."
So oder so erwartet Cwik vor allem vor Weihnachten noch mehr Probleme. "Da ist es am schlimmsten, da brauchen scheinbar alle Geld für Geschenke. Da wird auch auf Geldautomaten geschossen."