Die Europäische Union (EU) laufe Gefahr, wirtschaftlich ins Hintertreffen zu geraten, vor allem im Vergleich zu China und den USA. Um das zu verhindern, müsse Europa seine Produktivität steigern, fordert der Ex-Chef der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, in seinem am Montag in Brüssel vorgestellten Bericht zur EU-Wettbewerbsfähigkeit. Hierfür seien zusätzliche jährliche Investitionen in Höhe von 750 bis 800 Milliarden Euro nötig.
Als Beispiel für die mangelnde Produktivität führt Draghi einen zunehmenden Unterschied bei der Wirtschaftsleistung pro Kopf zwischen den USA und der EU in den vergangenen Jahren an. Rund 70 Prozent des Unterschieds gingen auf Produktivitätsunterschiede zurück, die wiederum mit dem rasanten Aufstieg großer US-Technologieunternehmen zusammenhängen würden. Europa stecke dagegen in einer statischen industriellen Struktur fest: Die größten Investoren in Forschung & Entwicklung kämen in Europa in den vergangenen 20 Jahren aus der Automobilindustrie. In den USA hätten Technologieunternehmen hier längst die Führung übernommen.
„Innovationslücke schließen“
Um das Problem aus europäischer Sicht anzugehen, müsse die „Innovationslücke“ zu den USA geschlossen werden. Dazu gehöre auch Fortschritte in der Forschung besser in kommerzielle Unternehmungen umzusetzen. Zudem solle ein europäischer Plan zur Dekarbonisierung sowohl für niedrigere Energiepreise sorgen, als auch sicherstellen, dass „die industriellen Möglichkeiten der Dekarbonisierung“ genutzt werden – sprich: europäische Firmen davon profitieren. Drittens müsse die EU ihre Abhängigkeiten von Drittstaaten reduzieren, auch im Bereich der Verteidigung.
Als „Bausteine“ zum Erreichen dieser Ziele nennt der frühere italienische Ministerpräsident den Abbau von Hindernissen im EU-Binnenmarkt. Weiters solle die Wettbewerbspolitik stärker darauf achten, die Innovationsfähigkeit von Unternehmen in zentralen Branchen nicht zu schwächen; also auch die Entstehung größerer europäischer Konzerne mit entsprechender Investitionskraft zuzulassen. Darüber hinaus müssten die Kapitalmärkte der EU-Länder stärker integriert werden, ein Bürokratieabbau solle die Unternehmen entlasten und die EU als Ganzes müsse handlungsfähiger werden.
„Nichts in dieser Art steht in dem Bericht“
Mit Blick auf die Energieproduktion schlägt Draghi unter anderem vor, den Markt für erneuerbare und nukleare Energie von jenem für fossile Energie zu trennen. Noch immer würden fossile Energieträger zu sehr die Strompreise bestimmen. Die Verbraucherinnen und Verbraucher würden dadurch aber kaum vom Ausbau der Erneuerbaren profitieren und könnten somit auch nicht deren Vorteile erkennen.
Draghi betonte, dass die Steigerung der Produktivität nicht zu Lasten der arbeitenden Bevölkerung gehen solle. In der Debatte der vergangenen Jahrzehnte sei Wettbewerbsfähigkeit oft mit niedrigeren Arbeitskosten, „sprich niedrigeren Löhnen, sprich mehr Flexibilität“ verbunden worden. „Nichts in dieser Art steht in dem Bericht“, versicherte er. So gehe der Produktivitätsunterschied gegenüber den USA beispielsweise fast zur Gänze auf den Technologiesektor zurück, in dem in der Regel hohe Löhne gezahlt werden.
Gemeinsame Schulden als heißes Eisen
Um die Ziele seines Berichts zu erreichen, müsse die EU jährlich zusätzliche 750 bis 800 Mrd. Euro investieren. Der Ex-Zentralbankchef fasst in dem Kontext auch ein heißes Eisen an und bringt eine gemeinsame Verschuldung über EU-Anleihen ins Spiel. Eine solche „Gemeinsame sichere Anlage“ würde die Integration und Effizienz des EU-Kapitalmarkts stärken, argumentiert Draghi. Das Reizwort brachte prompt den deutschen Finanzminister Christian Lindner (FDP) auf den Plan, der festhielt: „Deutschland wird dem nicht zustimmen“, wie die Nachrichtenagentur Reuters schreibt.
Bürokratieabbau nötig
„Der heute veröffentlichte Bericht von Mario Draghi zur Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union spiegelt in einigen Aspekten die Vorstellungen und Ziele Österreichs wider“, merkte Wirtschaftsminister Martin Kocher (ÖVP) in einer Stellungnahme an. Der Wirtschaftsminister begrüßte auch den von der Europäischen Kommission angekündigten Bürokratieabbau, „wobei es nun an der Zeit ist, dass konkrete Schritte folgen.“ Für die EU-Abgeordnete der ÖVP, Angelika Winzig, liefert der Draghi-Bericht einen wichtigen Beitrag. „Wenn wir unseren Wohlstand sichern und weiter ausbauen wollen, müssen wir dafür sorgen, dass unsere Industriebetriebe und KMUs weiter in Europa erfolgreich wirtschaften können. Dazu braucht es einen klaren Fokus auf Forschung, Entwicklung und Innovation sowie einen verbesserten Zugang zu Finanzierungen.“ Darüber hinaus mahnt die Politikerin weniger „Überregulierung“ an.
„Ich erwarte von unserer EU-Kommissionspräsidentin, dass sie sich die Vorschläge Draghis zu Herzen nimmt und eine Investitionsoffensive startet“, reagierte dann die SPÖ-Politikerin und EU-Abgeordnete Evelyn Regner auf den Bericht. „Die notwendige Gegenfinanzierung liegt auf der Hand - die erforderlichen öffentlichen Mittel können nicht nur durch die von Mario Draghi angedeuteten Eurobonds finanziert werden, sondern auch durch eine Wertschöpfungsabgabe, eine Vermögensabgabe oder eine Steuer auf Unternehmensanleihen finanziert werden.“