Angesichts des starken Anstiegs der Inflation im Euroraum auf Werte bis über 10 Prozent und der Sorge um eine daraus entstehende Preis-/Lohnspirale begannen die Zentralbanken des Eurosystems vor etwa zwei Jahren damit, systematisch Daten zu einzelnen Kollektivvertragsabschlüssen zu sammeln. Diese werden zu sogenannten „Wage-Trackern“ zusammengeführt, die eine zeitnahe Einschätzung der aktuellen und zukünftigen Lohnentwicklung ermöglichen. Diese Daten legen nahe, dass das Lohnwachstum im Euroraum gestiegen ist. Dieser Anstieg ist mit derzeit knapp 5 Prozent zwar höher als der historische Durchschnitt, fällt jedoch im Vergleich zum vorangegangenen Inflationsanstieg moderat aus.

Ausnahme Österreich

Die Lohnentwicklung in Österreich stellt dabei eine Ausnahme dar, da hierzulande die Entwicklung der kollektivvertraglichen Mindestlöhne und -gehälter (kurz Tariflöhne) de facto an die Inflation indexiert ist: Es gibt zwar keine gesetzliche Verpflichtung zur Anpassung der Tariflöhne an die Inflation wie etwa in Belgien, aber in den österreichischen Kollektivvertragsverhandlungen ist es üblich, dass die Tariflohnsteigerung zumindest im Ausmaß der Inflation im abgelaufenen Jahr erfolgt. Hierzu wird zumeist die „rollierende Inflation“ (der Durchschnitt der VPI-Inflationsraten für die letztverfügbaren zwölf Monate) herangezogen. Mit aktuell 8,5 Prozent ist das Wachstum der österreichischen Tariflöhne deutlich höher als im Euroraum insgesamt.

Einfacher Indikator

Mit dem Tariflohnindex (TLI) der Statistik Austria gibt es ein Maß für die durchschnittliche Entwicklung der Tariflöhne in Österreich. Der OeNB-Wage-Tracker ist ein einfacher Indikator, der die Informationen aller vorliegenden Kollektivvertragsabschlüsse aggregiert und in der Lage ist, die vergangene Entwicklung des TLI nachzuzeichnen bzw. diese zu prognostizieren.

Da Kollektivvertragsabschlüsse für ihre Laufzeit (meist ein Jahr) eine dauerhafte Erhöhung der Mindestlöhne und Gehälter bewirken, lässt sich das zu erwartende, im Jahresabstand gemessene, Tariflohnwachstum auch für die nahe Zukunft fortschreiben. Der Wert des Wage-Trackers kann grundsätzlich als Prognosewert für das Wachstum des TLI angesehen werden. Dabei ist aber auch auf den Anteil der dem Wage-Tracker zu Grunde liegenden Beschäftigten an der Gesamtbeschäftigung, den kollektivvertraglichen Abdeckungsgrad, zu achten. Je höher der Abdeckungsgrad, desto verlässlicher ist die Prognose.

Ab 2025 starker Rückgang bei Lohnwachstum

Das Tariflohnwachstum hat Anfang 2024 mit etwa 9 Prozent seinen Höhepunkt erreicht und nimmt bis zum Jahresende langsam auf etwa 8 Prozent ab. Diese Fortschreibung ist relativ zuverlässig, weil bis zum Jahresende die zugrunde liegende kollektivvertragliche Abdeckung hoch bleibt (über 80 Prozent).

Ab Anfang 2025 kommt es zu einem starken Rückgang des Tariflohnwachstums. Gleichzeitig nimmt jedoch auch der kollektivvertragliche Abdeckungsgrad stark ab, was daran liegt, dass im Jänner besonders viele Abschlüsse in Kraft treten, deren Lohnsteigerungen derzeit noch unbekannt sind. Es gibt jedoch bereits KV-Abschlüsse, die ins nächste Jahr hineinreichen und die einen starken Rückgang des Tariflohnwachstums ab 2025 erwarten lassen. Weil die Inflation gemäß OeNB-Prognose weiterhin sinkt, wird auch die für zukünftige KV-Abschlüsse maßgebliche rollierende Inflation zurückgehen. Daher ist zu erwarten, dass der Rückgang beim Wachstum der Tariflöhne stärker ausfallen wird als hier dargestellt.

Vorteil öffentlich Bediensteter

Während das Wachstum der Tariflöhne in der Privatwirtschaft im Verlauf des heurigen Jahres abnimmt, bleibt das Wachstum der Gehälter im öffentlichen Sektor (hier definiert als die ÖNACE-Sektoren O-Q, d. h. inklusive des Unterrichts- sowie des Gesundheits- und Sozialwesens) bis zum Jahresende hoch. Dies liegt vor allem an einem hohen Abschluss für die öffentlich Bediensteten (+9,3 Prozent ab Jänner 2024). Ähnlich hohe Abschlüsse gab es auch in anderen Sektoren, die sich am öffentlichen Sektor orientieren (z. B. Sozialwirtschaft, Universitäten, private Kinderbetreuungseinrichtungen, Caritas etc.).

Maßgebliche Abschlüsse im privaten Sektor traten hingegen zwar ebenfalls vor bzw. zum Jahreswechsel in Kraft, fielen aber zum Teil geringer aus, wie beispielsweise diejenigen für die Metaller (+8,5 Prozent) und die Handelsangestellten (+8,4 Prozent). Die Lohnsteigerungen im Baugewerbe und im Hotel- und Gastgewerbe traten erst im Mai in Kraft und waren wegen der gesunkenen rollierenden Inflation mit +7,1 Prozent bzw. +7,25 Prozent ebenfalls geringer. Dies führt im Jahr 2024 zu einem deutlich höheren Tariflohnwachstum im öffentlichen Sektor als in der Privatwirtschaft. Dieser Unterschied fällt bei den tatsächlichen Verdiensten je Arbeitnehmer sogar noch stärker aus, weil es im privaten Sektor aufgrund der schwachen Konjunkturlage zu einer negativen Lohndrift kommt, d. h., die Verdienste pro Kopf wachsen in schwächerem Ausmaß als die Tariflöhne.