Dienstag-Abend erreichen wir Lukas Schinko am Flughafen in Kopenhagen. Seine Antworten im Videogespräch fallen knapper aus als gewöhnlich, aber wohlüberlegt. „Die letzten Wochen bis Monate“ hätte man sich sehr intensiv mit dem Schritt beschäftigt, erzählt der Chef des steirischen Hörakustikers Neuroth. Mit einem Schritt, der „sehr groß ist für uns“, wie Schinko ergänzt – „und mutig“.
Kurz vor dem Gespräch wurde spruchreif, dass Neuroth, ein Familienunternehmen mit mehr als 115-jähriger Geschichte, in der Schweiz zukauft. Und zwar in beträchtlichem Ausmaß. Die Steirer verleiben sich die Hörakustik- und Optiksparte von Migros – einem der größten Einzelhändler der Schweiz und auf Verschlankungstour – ein. Misenso heißt diese und zählt neben 25 Standorten 200 Beschäftigte. Die Belegschaft der Neuroth-Gruppe wächst dadurch auf einen Schlag um 15 Prozent und zählt bald 1500 Köpfe. Über finanzielle Details des Deals wurde Stillschweigen vereinbart.
Anders als bei vorherigen, kleineren Übernahmen in der Schweiz, wollen die Steirer dieses Mal die Marke Neuroth nicht über den Neuzugang stülpen. „Wir verfolgen den ganz klaren Plan mit zwei eigenständigen Positionierungen. Es muss ein Nebeneinander sein“, erklärt Lukas Schinko, der Neuroth in vierter Familien-Generation leitet.
„Sowohl als Marke, als auch als Unternehmen“ solle die 2020 gegründete Gesellschaft mit Sitz in Zürich „erhalten und eigenständig“ bleiben, heißt es bei Neuroth. Der Grund für die Zurückhaltung des Neo-Eigentümers liegt in Größe und vor allem Ausrichtung von Misenso. Die Schweizer bieten nämlich nicht nur Hörakustik an, sondern betreiben, wie beschrieben, auch ein Optikgeschäft. Der Mix berge gewisse „Komplexität“, räumt Schinko ein. Selbst führte er Neuroth in den letzten Jahren schrittweise weg von den Brillen, wenig verwunderlich legen die Steirer dahingehend auf die Betonung wert, dass die „Optik-Sparte exklusiv nur von Misenso betrieben wird“.
Auch das Vertriebsgeschäft Misensos ist außergewöhnlich. Hörgeräte und Brillen verkauft das Unternehmen primär auf „Shop-in-Shop“-Verkaufsflächen innerhalb von Migros-Supermärkten oder Migros-Einkaufszentren. Öffnungszeiten entsprechen bei Misenso denen eines Supermarktes, Geschäftsidee ist es, Kunden abzuholen, die den Einkauf mit einem Termin beim Optiker oder Akustiker verbinden.
„Massive Unterversorgung“ in der Schweiz
Die betont offensive Botschaft, die bei Neuroth im Zuge der Übernahme nun zu vernehmen ist: Der Kauf sei nur „ein weiterer Schritt zur Nummer 1 am Schweizer Hörakustikmarkt“. Auf diesem Markt, an dessen Spitze zurzeit die italienische Amplifon-Gruppe thront, sieht Lukas Schinko noch großes Potenzial. Von einer „massiven Unterversorgung“ spricht der 37-Jährige gar mit Blick auf das Nachbarland. „400.000 Menschen“, heißt es vom Unternehmen, würden dort ein Hörgerät benötigen, tragen aber zurzeit keines.
Bei Neuroth genießt die Schweiz ohnehin einen besonderen Stellenwert. Einerseits emotional, war es doch die erste Auslandsdestination des 1907 gegründeten Unternehmens, andererseits wirtschaftlich, weil das Land nach Österreich als zweitgrößter Neuroth-Markt gilt. Alleine im letzten Jahr wuchs der Umsatz Neuroths in der Schweiz um 30 Prozent, 85 Hörcenter betreiben die Österreicher dort.