Die Teuerung gibt sich nicht geschlagen: Mit 2,6 Prozent war die Mai-Inflation im Euroraum um 0,2 Prozentpunkte über der im April und noch einen Tick höher als erwartet. Die Kernrate – ohne Energie und Lebensmittel – stieg sogar auf 2,9 Prozent. Der Inflationszielwert von 2 Prozent ist zwar in Sicht, aber längst nicht erreicht. Dass die allseits erwartete Zinssenkung nun noch verschoben wird, ist dennoch wohl auszuschließen. Beim Zinsentscheid am Donnerstag im Skytower in Frankfurt wird der EZB-Rat aller Voraussicht nach die Wende der Wende einläuten. Exakt 686 Tage, nachdem man dort am 21. Juli 2022 nach sechs Jahren Abschied von der Nullzinspolitik genommen hatte – viel zu spät, wie man längst weiß. Die Inflation wurde als „vorübergehend“ eingestuft. Ein schwerer Fehler, zumal der Krieg in der Ukraine die ohnehin glosende Teuerung noch befeuerte.

Schärfstes Werkzeug im Instrumentenkoffer

Binnen 14 Monaten wurde der Leitzins auf 4,5 Prozent hochgepusht; dort verharrt er seit September 2023. Es ist jener Zinssatz, zu dem sich Banken bei der EZB Geld leihen können. Der Einlagensatz, den Geldhäuser erhalten, wenn sie bei der Notenbank überschüssige Gelder parken, beträgt 4,0 Prozent. Geldwertstabilität – laut Definition eine Inflationsrate von zwei Prozent – ist das zentrale Mandat der EZB, mit ihrem geldpolitischen Instrumentenkoffer, in dem Leitzinsen das schärfste Werkzeug sind, hat sie alles zu unternehmen, um den Wert des Euro zu erhalten.

Bremsspur der Wirtschaft

Und sie hat Erfolge vorzuweisen: Seit einem halben Jahr liegt die Inflation im Euroraum – nicht in Österreich – unter drei Prozent. Damit einher ging eine heftige Bremsspur der Wirtschaft. Ob eine Zinssenkung um 0,25 Prozent reichen wird, um das Tal der Tränen zu verlassen, wird sich weisen. Mit maximal zwei weiteren Zinssenkungen um jeweils 0,25 Prozentpunkte ist heuer zu rechnen. Außer Streit steht der psychologische Effekt der Stimmungsaufhellung. Die erstickte Kreditnachfrage soll etwas Auftrieb erhalten.

Freilich: Die EZB kann nicht losgelöst von der Fed agieren. Die Zentralbank in Washington musste die Zinswende, die für den Beginn des Jahres und dann für den Sommer erwartet wurde, wiederholt verschieben. Der Grund: Die Inflation klebt hartnäckig am Dollar, aktuell bei 3,4 Prozent. Anders als im Euroraum wurde der US-Wirtschaftsmotor aber nicht abgewürgt.

„Restriktive“ Geldpolitik bleibt

Dass die Notenbanker in Frankfurt die Zinssenkung im letzten Moment auf die lange Bank schieben, ist kaum vorstellbar. Eine Reihe von EZB-Vertretern ließ keine Zweifel aufkommen, im Sitzungsprotokoll des EZB-Rats Ende April gab man sich optimistisch, man könne beim Juni-Treffen beginnen, „die geldpolitischen Restriktionen zurückzunehmen“. Soll heißen: Die Zinsen senken. EZB-Chefvolkswirt Philip Lane betonte gegenüber der „Finan­cial Times“, der Leitzins soll im restriktiven Bereich bleiben. Als „restriktiv“ gilt Geldpolitik etwa dann, wenn der Leitzins über dem „natürlichen“, nicht exakt bestimmbaren Zinssatz liegt, bei dem die Zinsen die Wirtschaft weder befeuern noch abbremsen. Und selbst mit 4,25 Prozent läge der Leitzins weit über der Kerninflationsrate.

Droht ein kapitaler Fehler der EZB?

Doch Obacht: 2021/2022 sind die Währungshüter mit ihren Modellen arg danebengelegen, die Inflation hielt sich nicht an Prognosen, was die dramatische Kehrtwende erzwang. Dass sich die EZB nun vor der Fed auf Zinssenkungen einlässt, obwohl das Inflationsziel nicht erreicht ist, mag einer vermeintlich sicheren Datenlage in Frankfurt geschuldet sein. Genaueres wird man erst im Rückblick wissen – ob der 6. Juni der Tag eines kapitalen Fehlers der EZB gewesen sein wird oder ein kluges Signal an verunsicherte Unternehmen und Konsumenten, die neues Vertrauen schöpften.