Die Europäische Zentralbank (EZB) hat den Finanzmärkten eine erste Zinssenkung im Juni im Umfang von einem viertel Prozentpunkt signalisiert. Was die Entscheidung bei der Juni-Sitzung betreffe, sei die EZB sehr transparent, sagte Notenbank-Vizepräsident Luis de Guindos in einem am Donnerstag veröffentlichten Interview der Zeitung „Oberösterreichische Nachrichten“. „Und wir haben einen umsichtigen Zugang, was für eine Senkung um 25 Basispunkte sprechen würde,“ fügte er hinzu.
Zinsentscheid am 6. Juni
Der Zinsentscheid der Währungshüter steht am 6. Juni in Frankfurt an. Für einen kleinen Schritt spricht auch, dass sich das Wachstum der Tariflöhne im Euroraum zu Jahresbeginn wieder leicht verstärkt hat, wie aus neuen EZB-Daten hervorgeht.
Der Grad der Unsicherheit sei riesig, sagte de Guindos der Zeitung. „Wir haben nichts entschieden, was die Zahl der Zinssenkungen und deren Ausmaß betrifft.“ Die EZB werde sehen, wie sich die wirtschaftlichen Daten entwickeln. Es gebe keine Festlegung, was Zinssenkungen oder -änderungen betreffe. „Wir brauchen eine vorsichtige Geldpolitik.“ Ähnlich hatte sich am Mittwochabend EZB-Direktorin Isabel Schnabel geäußert. „Man sollte auf jeden Fall vorsichtig sein, die Daten genau beobachten, um rechtzeitig zu erkennen, wenn die Inflation sich nicht so entwickelt, wie wir es jetzt erwarten“, sagte Schnabel im ARD-Magazin „Plusminus.“
Teuerung 2,0 Prozent angestrebt
Die EZB strebt 2,0 Prozent Teuerung als Idealwert für die Wirtschaft der 20-Ländergemeinschaft an. Mit 2,4 Prozent im April lag die Rate zuletzt nicht mehr weit von diesem Ziel entfernt. De Guindos geht davon aus, dass die Inflation im Euroraum kurzfristig schwanken wird. 2025 werde sich die Teuerung dann auf einer stabilen Basis der Notenbank-Zielmarke von zwei Prozent annähern. „Aber es gibt einige Risiken: wie sich die Löhne entwickeln und was mit der Produktivität, den Lohnstückkosten und den sinkenden Gewinnmargen geschieht, das sind dabei die wichtigsten Faktoren.“ Dazu kämen geopolitische Risiken. Dabei nannte er den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, den Konflikt im Nahen Osten sowie mögliche Spannungen in Südostasien.
Lohndruck schwächt sich ab
Das Lohnwachstum gilt derzeit als einer der zentralen Inflationstreiber. Laut EZB-Daten nahmen die Tariflöhne im ersten Quartal um 4,69 Prozent zu. Noch im Schlussquartal 2023 war das Wachstum mit 4,45 Prozent etwas schwächer ausgefallen. In einem Blogbeitrag auf der EZB-Webseite hielten die Währungshüter aber an ihrer generellen Einschätzung fest, dass das Lohnwachstum heuer nachlassen werde. „Jedoch dürfte der Lohndruck sich im Jahr 2024 abschwächen“, hieß es darin. Die EZB hält ein Lohnwachstum von rund drei Prozent für vereinbar mit ihrem mittelfristigen Inflationsziel.
Neue Einschätzung
Nach Einschätzung von Commerzbank-Volkswirt Marco Wagner kommen die neuen Tariflohndaten der EZB ungelegen. „Das dürfte den Notenbankern zwar nicht gefallen, aber nicht von einer ersten Zinssenkung im Juni abhalten“, merkte er an. „Sollten die Löhne aber weiter kräftig steigen, könnte das in den kommenden Monaten die Notenbanker zu einer neuen Einschätzung bewegen“, fügte er hinzu. In ihren jüngsten vierteljährlichen Projektionen waren die EZB-Volkswirte im März davon ausgegangen, dass die Löhne in der Eurozone heuer um 4,5 Prozent steigen werden nach 5,3 Prozent 2023. Für 2025 hatten sie ein Plus von 3,6 Prozent veranschlagt, für 2026 ein Wachstum von 3,0 Prozent.