Die Europäische Zentralbank (EZB) steuert um und nimmt Kurs auf eine bevorstehende erste Zinssenkung. Die Währungshüter um EZB-Präsidentin Christine Lagarde beschlossen am Donnerstag auf ihrer Geldpolitik-Sitzung in Frankfurt zwar, den Leitzins weiter bei 4,5 Prozent und den am Finanzmarkt richtungsweisenden Einlagensatz bei 4 Prozent zu belassen.
Zugleich deuteten sie aber an, demnächst die Zinswende einzuleiten: „Sollte seine aktualisierte Beurteilung der Inflationsaussichten, der Dynamik der zugrunde liegenden Inflation und der Stärke der geldpolitischen Transmission die Zuversicht des EZB-Rats weiter stärken, dass die Inflation sich nachhaltig dem Zielwert annähert, wäre eine Lockerung der aktuellen geldpolitischen Straffung angemessen“, erklärten die Euro-Wächter.
„Wirtschaft im ersten Quartal schwach geblieben“
Die Konjunktur im Euroraum hat laut Lagarde im Winter noch keine Fahrt aufgenommen. „Die Wirtschaft ist im ersten Quartal schwach geblieben“, sagte sie am Donnerstag in der Pressekonferenz nach der EZB-Ratssitzung. Doch Umfragen sprächen für eine schrittweise Erholung im Laufe des Jahres, wobei der Servicesektor vorangehen dürfte.
Die Fachleute der Europäischen Zentralbank (EZB) erwarten heuer ein Wirtschaftswachstum von 0,6 Prozent im Euroraum. Zuletzt gab es bereits zarte Erholungssignale: Das von dem Finanzhaus S&P Global berechnete Barometer legte im März binnen Monatsfrist um 1,1 Punkte auf 50,3 Zähler zu. Es lag damit erstmals seit Mai 2023 wieder über der Wachstumsschwelle von 50 Punkten. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Eurozone stagnierte von Oktober bis Dezember im Vergleich zum Vorquartal. Im Sommerquartal war die Wirtschaft noch leicht um 0,1 Prozent geschrumpft.
Die EZB hält inzwischen seit September 2023, als sie im Kampf gegen die Inflation zuletzt die Zinsen angehoben hatte, an den rekordhohen Schlüsselsätzen fest. Inzwischen ist die Inflation aber in der Eurozone im März auf 2,4 Prozent gefallen, nach 2,6 Prozent im Februar und 2,8 Prozent im Jänner. Die Zielmarke der EZB von 2,00 Prozent, die sie mittelfristig als optimales Niveau für den Währungsraum anstrebt, rückt damit in greifbare Nähe. Die Zeiten der Hochinflation, die im Herbst 2022 zeitweise auf über zehn Prozent anstieg, sind längst vorbei. Zehn Zinsanhebungen der EZB zwischen Sommer 2022 und September 2023 entfachten ihre Wirkung.
In den vergangenen Wochen hatte bereits eine Reihe von Währungshütern die Ansicht geäußert, die Zinssitzung am 6. Juni könnte der geeignete Startpunkt für die Zinswende sein. Denn das Lohnwachstum, das zuletzt einer der stärksten Inflationstreiber im Euroraum war, hat sich zuletzt etwas abgeschwächt. Zudem dämpfen die straffen Finanzierungsbedingungen weiterhin die Konjunktur. EZB-Präsidentin Lagarde hatte im März gesagt, die Notenbank werde von der Datenlage her wohl im Juni ausreichend Sicherheit haben, um über eine erste Zinssenkung zu entscheiden. Dann dürften den Währungshütern unter anderem wichtige Daten zu den diesjährigen Tarifabschlüssen aus den Euro-Ländern vorliegen. Zudem werden zu der Sitzung neue Konjunktur- und Inflationsprognosen der EZB-Volkswirte erwartet.
„Werden im Juni deutlich mehr wissen“
Trotz des Rückgangs der Inflation erwarten Experten eine erste Zinssenkung erst bei der Sitzung am 6. Juni. „Die Mehrheit im EZB-Rat dürfte wohl bis Juni warten wollen, weil dann nicht nur die neuen Projektionen der EZB-Experten vorliegen, sondern die für die Notenbanker derzeit wichtigen Lohnindikatoren dann nahezu das erste Halbjahr abdecken“, heißt es in einem Ausblick der Commerzbank. Dies hatte auch EZB-Präsidentin Lagarde bei der vorherigen Pressekonferenz mehrfach angeführt. Man werde im April „etwas mehr“ wissen, im Juni aber „deutlich mehr“.
„Im Vorfeld dieser EZB-Ratssitzung gaben einige Mitglieder zu verstehen, dass sie über den Beginn von Leitzinssenkungen diskutieren wollen“, schreiben die Experten der Dekabank in einem Ausblick. Wahrscheinlich werde die EZB eine Entscheidung jedoch auf das nächste Treffen verschieben, da sie dann über eine umfassendere Datengrundlage verfüge.
EZB dürfte Zinsen vor der US-Notenbank Fed senken
Es gibt derzeit wenig Zweifel an den Märkten, dass die EZB im Juni ihre Zinsen senken wird. Lagarde betont zwar immer wieder, dass man datenabhängig vorgehen werde. Allerdings ist die Notenbank meistens bestrebt, die Märkte nicht zu überraschen. „Auf der Pressekonferenz sollte Präsidentin Lagarde andeuten, dass die Hürden für einen ersten Zinsschritt nicht hoch liegen, das anschließende Tempo der geldpolitischen Lockerung aber von der Entwicklung der Daten abhängen wird“, erwarten die Experten der Dekabank.
Damit zeichnet sich ab, dass die EZB die Zinsen vor der US-Notenbank Fed senkt. Angesichts der robusten Konjunktur und des stabilen Arbeitsmarkts in den USA gibt es mittlerweile sogar Stimmen aus der Fed, die Zinssenkungen in diesem Jahr in Zweifel ziehen. In der Eurozone hingegen schwächelt die Wirtschaft, insbesondere in Deutschland. Dies dürfte es der EZB leichter machen, die Zinsen im Juni zu senken.