Kein einziger europäischer Webshop ist 2023 auch nur annähernd so schnell gewachsen wie die chinesische Shopping-App Temu. 16 Milliarden Dollar soll deren Umsatz im Vorjahr betragen haben. Der chinesische Ultra-Fast-Fashion-Anbieter Shein erwirtschaftete sogar über 25 Milliarden Dollar. Ein Wachstum, schnell wie ein Lauffeuer. Ermöglicht wird es durch fragwürdige Methoden: fehlende Produkthaftung, hohe Schadstoffgehalte, Umgehung von Verbraucherrechten und Zollbestimmungen. Und dann wäre da noch die Umweltbelastung durch die vielen Wegwerfartikel. Von „Schrott-Commerce“ ist schon die Rede, und einer „Müllstraße, die sich da von China bis nach Österreich zieht“, wie es Handelsverbands-Geschäftsführer Rainer Will ausdrückt. Will sieht bei der EU ein „Vollzugsdefizit“ gegenüber den chinesischen Anbietern und fordert die Abschaffung der 150-Euro-Zollfreigrenze bis spätestens 2026.
Währenddessen wird weiter geshoppt. Sportkleidung „mit bis zu 90 Prozent Rabatt“ bietet Temu (Slogan: „Shoppen wie ein Milliardär“) derzeit an. Unter den „Frühlingsangeboten“ auch Damenschuhe „ab 0,36 Euro“. Shein bietet im „heißen Deal“ ein Sommerkleid um 8,05 Euro, ein Tanktop um 5,35 Euro.
Anleitung zum Zollbetrug?
Die EU geht für 2023 von zwei Milliarden Paketen aus, die aus China unter dem Titel „zollfrei“ nach Europa geliefert wurden, Tendenz stark steigend. Zwei Drittel dieser als zollfrei deklarierten Päckchen könnten falsch ausgewiesen sein, um Zollgebühren zu umgehen und Einfuhrumsatzsteuer zu sparen. „Uns sind Fälle bekannt, in denen selbst bei Rücksendungen die europäischen Kunden aufgefordert werden, den Wert der Rücksendung bewusst falsch anzugeben, um sich den Zoll zu sparen. Das ist quasi eine schriftliche Anleitung zum Zollbetrug“, sagt Will. Geflogen würden die Waren fast ausschließlich nach Ungarn, von wo sie dann nach Österreich weitertransportiert werden. In Ungarn sei „ein Durchwinken ohne strenge Kontrollen möglich. Für uns ein massives Problem“, sagt Otto- bzw. Unito-Geschäftsführer und Handelsverband-Vizepräsident Harald Gutschi.
„Echte“ Bewertung, teure Retoure
Auch der Verein für Konsumentenschutz (VKI) hat die Billigflut aus China im Visier. „Der VKI prüft derzeit die Rechtslage und wird gegebenenfalls mit Klagen vorgehen“, sagt Petra Leupold, Leiterin der VKI-Klagsabteilung. Die Beschwerden betreffen laut Leupold lange Lieferzeiten, kostspielige Retouren, irreführende Rabatthöhen und schlechte Produktqualität. Teilweise werde auch das in Europa geltende zweiwöchige Rücktrittsrecht nicht anerkannt oder versucht, die Käufer mit Gutscheinen abzuspeisen. Aber nach EU-Recht ist „der Kaufpreis der Ware zu erstatten“. Bei Rabatten in Beträgen oder Prozenten sei der vorherige niedrigste Preis der letzten 30 Tage anzugeben, um eine Irreführung der Konsumenten zu vermeiden, so Leupold. Verboten seien auch Behauptungen, dass Produktbewertungen „echt“ seien – ohne dass geprüft wurde, ob sie tatsächlich echt sind. Aus juristischer Sicht sind in Österreich das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, die Datenschutz-Grundverordnung und der Digital Services Act betroffen.
Frankreich debattiert Werbeverbot
Auch andere europäische Länder wollen gegen Schrott-Commerce vorgehen. So debattiert Frankreichs Parlament derzeit über einen Gesetzentwurf, der die Fast-Fashion-Konzerne regulieren soll. Im Gespräch sind Aufschläge für Billigkleidung und ein Werbeverbot. Und auch die deutsche Verbraucherzentrale prüft rechtliche Schritte gegen Temu und Co.
„Qualitätskontrolle verfeinert“
Temu weist die Vorwürfe von sich. In Bezug auf ungenügenden Datenschutz heißt es in einer Stellungnahme: „Bei Temu legen wir großen Wert auf den Schutz der Privatsphäre und halten unsere Datenpraktiken transparent. Temu sammelt Informationen ausschließlich zu dem Zweck, seinen E-Commerce-Service für die Nutzer bereitzustellen und zu verbessern. Temu sammelt weniger Benutzerinformationen als andere Apps wie Amazon.“ In Bezug auf Produktsicherheit verpflichte sich Temu, „die Gesetze und Vorschriften aller Länder und Regionen, in denen wir tätig sind, einzuhalten. Seit wir unsere Tätigkeit in der EU aufgenommen haben, haben wir unsere Überwachungs- und Qualitätskontrollsysteme sorgfältig verfeinert. Wir haben eng mit unseren Händlern zusammengearbeitet, um sicherzustellen, dass sie die EU-Anforderungen erfüllen, und haben Produkte, die nicht der Norm entsprachen, umgehend aus dem Angebot genommen.“