Wenn die Ankündigung eines Chefwechsels den Aktienkurs eines Unternehmens nach oben treibt, ist das meist ein untrügerisches Zeichen dafür, dass gegenwärtig so einiges im Argen liegt. Ein Zeichen, das es im Fall von Boeing freilich gar nicht gebraucht hätte. Der einst so stolze US-Flugzeugbauer, eine Ikone der amerikanischen Industriegeschichte, ist zum Krisenkonzern mutiert. Nicht plötzlich, aber zuletzt mit zunehmender Rasanz. So dominierte der Riese aus Everett bei Seattle auch in dieser Woche die Schlagzeilen: Der zuletzt aufgrund einer beispiellosen Pannenserie (siehe rechts) ins Kreuzfeuer der Kritik geratene Boeing-Chef, Dave Calhoun, wird das Unternehmen bis Jahresende verlassen. Die Nachricht ließ die Börsenaktie um knapp drei Prozent steigen. Angesichts eines Kurssturzes von 23 Prozent seit Jahresbeginn 2024 ist das zwar nur eine zarte Korrektur. Aber immerhin.
Dabei war Calhoun einst selbst als Krisenmanager an Bord geholt und konnte den trudelnden Riesen ab Anfang 2020 – nach den folgenschweren Abstürzen von zwei Boeing-Maschinen des neuen Typs 737-MAX in den Jahren 2018 und 2019 mit 346 Todesopfern und vorübergehenden Flugverboten – vorerst wieder etwas stabilisieren. Dennoch sorgten die anhaltenden gravierenden Sicherheitsthemen rund um diesen Jet, zuletzt aber auch anderer Modelle, dafür, dass 2023 für den stolzen Konzern zum bereits fünften Verlustjahr in Folge wurde. Bei 77,8 Milliarden Dollar Umsatz.
Qualitätssicherung, Krisenkommunikation und Transparenz
Neben Calhoun müssen auch Verwaltungsratschef Larry Kellner und der Chef der Verkehrsflugzeugsparte, Stan Deal, gehen. Die Aufgaben von Deal werden von Stephanie Pope übernommen. Die Nachfolger-Suche für Calhoun läuft derzeit noch.
Die US-Luftfahrtbehörde FAA untersagte Boeing, das Unternehmen beschäftigt über alle Bereiche rund 171.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, jedenfalls bereits im Jänner, die Fertigung der 737-MAX, Konkurrenzprodukt zum Airbus A320, auszuweiten. Kunden gingen verloren, das Kreditrating wackelt, der Ausblick hat sich markant eingetrübt. Bei den Auslieferungen wurde Boeing von Airbus überflügelt. Ob die Abgesänge auf den 1916 von William Boeing (Böing), Sohn deutscher Auswanderer, gegründeten Flugzeugkonzern verfrüht sind, wird entscheidend davon abhängen, wie Calhouns Nachfolger mit den evidenten Problemen umgeht – und ob Qualitätssicherung, Krisenkommunikation und Transparenz wieder zum Steigflug ansetzen.
Interview zum Thema
Kritisch sieht die Entwicklung bei Boeing jedenfalls auch Thomas M. Friesacher, Luftfahrtexperte, Sachverständiger und Berater für Luftfahrtsicherheit: „Es gibt ein tiefliegendes, latentes Problem in sicherheitsrelevanten Bereichen der Boeing-Produktion. Es geht aber auch um die Unternehmensphilosophie und -struktur, die dort vorherrscht. Es trat nun ans Tageslicht, was anmutet, wie die Verweigerung einer Neuausrichtung auf moderne Sicherheitsstandards, auf moderne Weiterentwicklungen.“
Friesacher „wundert sich beinahe, dass Boeing über viele Jahrzehnte der Weltmarktführer vor dem aufsteigenden Rivalen Airbus war“. Auch ehemalige Boeing-Mitarbeiter betonen immer wieder, dass im harten Konkurrenzkampf bei Boeing das Management und nicht die Ebene der Ingenieure das Sagen habe. „Im Kopf bleibt, dass es Vorfälle gegeben hat, diese negative Besetzung der Marke schadet ihr massiv“, so der Experte.
„Niemand hat Interesse daran, etwas zu vertuschen“
Dass Boeing, über viele Jahrzehnte Weltmarktführer, massiv an Vertrauen verloren hat, nicht zuletzt beim Fluggast, steht für ihn außer Frage. Was es bräuchte, wäre ein Kulturwandel im Unternehmen, der neue CEO hat in seinen Augen eine „Herkulesaufgabe“ vor sich. In Friesachers Wahrnehmung markierte die Einführung der Boeing 737 Max eine gewisse Bruchlinie: „Im Unternehmen allgemein, in seiner Sicherheitskultur oder im Management muss sich etwas zum Negativen verändert haben.“ Die Maßstäbe der amerikanischen und europäischen Luftfahrtbehörden FAA und EASA schätzt er jedenfalls hoch ein. Zudem gebe es in Europa ein sehr engmaschiges Wartungs- und Kontrollnetz, betont Friesacher. Und: „In Österreich und in Deutschland oder sonstwo in Europa hat generell auch niemand irgendein Interesse daran, etwas zu vertuschen.“
Dass die US-Regierung dem strauchelnden Boeing-Konzern unter die Arme greifen muss, hält der Luftfahrtexperte für möglich bis wahrscheinlich: „Ich denke, dass es von der amerikanischen Regierung Bestrebungen geben wird, den Konzern über Wirtschaftsaufträge in Rüstungsindustrie wieder so zu stützen, dass er seine Marktposition überhaupt behaupten kann“, sagt Friesacher.