Das Fernweh war schon immer da, und ihre Lovestory begann am Grazer Hauptplatz, als sie sich zufällig nach dem Studium trafen. Valeska und Philipp Schaudy haben danach gemeinsam die Welt erradelt. Heute sind sie stolze Eltern von zwei Kindern und blicken zurück. Auf Radreisen auf allen Kontinenten. „Mit dem Rad bist du bald einmal in Afrika“, lacht Valeska bei unserem Gespräch. Es sei ein anderes Lebenstempo, mit dem Rad zu reisen, näher an der Natur und den Menschen, erzählen sie. Wie haben all diese Reisen ihr Leben bis heute verändert? Sie haben dafür zehn Schlagwörter gefunden. „Seit wir wieder zu Hause sind, rast die Welt dahin“, erzählt Philipp. Und beide beginnen, über ihre wichtigsten Erfahrungen und deren Folgen fürs Leben zu erzählen.
Dankbarkeit
Valeska erinnert sich: „In Indien waren wir in einem Krankenhaus, weil ich hohes Fieber hatte. Es gab keine Hilfe, alles war schmutzig. Aufrüttelnd, diese Hilflosigkeit.“ Erst ein Anruf bei einer befreundeten Ärztin in Österreich und ein Antibiotikum im Gepäck halfen. „Es ist gut ausgegangen. Aber wenn man sich daran und was wir in dieser Welt gesehen haben, erinnert, schätzt man unser Daheim-sein-in-Österreich ganz anders. Frieden, gutes Gesundheitssystem, sauberes Wasser, Seen, Berge, die Schönheit von vier Jahreszeiten.“ Philipp ist am dankbarsten für etwas, „wofür ich gar nichts kann. In einem der reichsten Länder der Welt geboren zu sein und einen Reisepass zu besitzen, mit dem man fast überallhin reisen kann. Alle anderen Dankbarkeiten eines Reisenden wären sonst gar nicht möglich“.
Beziehung
Valeska: „Per Rad zu reisen, ist sehr intensiv. Da hatten wir oft keine Kraft und keine Zeit, die Themen fertig zu streiten. Etwa bei einem Sandsturm mitten im Sudan. Viele Dinge blieben ungeklärt und haben sich später durch das Verfolgen des gemeinsamen Zieles des Weiterkommens aufgelöst. Heute haben wir, glaube ich, noch immer dasselbe Konzept. Ich denke, wenn es gemeinsame Ziele und Werte gibt, dann ist es besser, nicht bei den Stolpersteinen hängenzubleiben.“
Genügsamkeit
Für Valeska ein idealer Aggregatzustand. „Zwei Fahrradtaschen pro Rad – alles drin, was man/frau braucht. Es war herrlich, mit so wenig Ballast zu reisen. Kein Räumen, kein Aussortieren, kein Schlichten – was für ein Zeitgewinn. Ich habe gelernt, mit sehr wenig auszukommen. Ich bin bis heute keine gute Konsumentin, trage meine Sachen, bis sie zerfallen.“ Philipp sagt, auch er habe mit den Radreisen gelernt, genügsam zu sein. „Weil zum Beispiel jedes Essen, selbst, wenn es zum siebenten Mal in der Woche Nudeln mit Tomatensoße ist, grandios schmeckt. Aber es ist vor allem das Sehen und Erleben, etwa, wie kostbar Wasser in der Wüste sei. Im Sudan zum Beispiel war der ‚Trans East African Highway’ nicht mehr als ein paar Reifenspuren im Sand, und dort standen immer wieder tönerne Amphoren. Es war in der Situation das beste Wasser der Welt – und irgendjemand hat es dort für uns und andere eingefüllt.“
Ungewissheit
Für Valeska ein Schlüsselwort. „Auf unserer Reise hatten wir großteils keine Internetverbindung. Wir mussten Karten lesen, Leute fragen, einfach schauen, fahren, das Wetter so nehmen, wie es kommt. Und dieses Gefühl der Ungewissheit ist aufregend, spannend. Auf einer großen Werbetafel vor einer Kirche mitten in den USA haben wir gelesen: ,Google does not have all the answers!‘ … So ist es.“ Bei Philipp schürt das Reisen ins Ungewisse die Abenteuerlust. „Es war ein spannendes Eintauchen in eine erfrischende Ungewissheit. Das Ankommen in Graz – nach beinahe sechs Jahren am Rad – war ein Aufprall in eine ganz andere Ungewissheit.“
Toleranz
Valeska erzählt von den Übernachtungen der beiden bei fremden Menschen. „Wir haben dabei oft an langen Abenden ganze Lebensgeschichten erfahren. Es gibt so viele verschiedene Lebensmodelle – und wir dachten: ,So würde ich das nicht machen‘, oder wir waren erstaunt, hörten zu. Und wir hörten auf zu urteilen.“ Philipp stellt sich die Frage: „Wie kommen wir dazu, unsere Kultur immer als ,die Beste‘ anzusehen?“ Unterwegs toleriere man zwar die Eigenheiten der Kulturen. Wenn Jäger in Alaska die Elche vom Jeep aus schießen oder in Australien Ureinwohner keinen Einlass in ein Roadhouse haben, wenn in moslemischen Ländern Frauen komplett verschleiert sind und bei Essenseinladungen nicht am Mahl teilnehmen dürfen. „Man lernt Toleranz anderen Kulturen gegenüber, aber auch, was für einen selbst inakzeptabel ist.“
Spontaneität
Valeska erinnert sich gerne an Neuseeland, wo sie Pläne immer wieder über den Haufen warfen. „Das war viel lohnender, wir haben keine starren Pläne gemacht und das war gut so. Heute planen wir bewusst ganze Tage ohne Pläne ein. Spontan bei Nachbarn klingeln, spontan Rad fahren gehen, spontan Kuchen backen, … Das haben wir uns bewahrt.“ Philipp betont, dass so auch Begegnungen entstanden seien, die zu Lebensfreundschaften gewachsen seien.
Romantik
Valeska oszilliert zwischen Gefühlsebenen. „Arambol. Goa. Ein Sandstrand mit Kokospalmen und glitzerndem Meer – wie im Prospekt! Romantisches Gefühl, ja. Zumindest einen Moment lang. Doch wir waren dann auch nicht allein. Vor allem Franzosen, Deutsche und Russen bevölkerten den Strand. Kühe überall. Abwasser rinnt ins Meer. Ein Urin-Kuhdung-Abwassergeruch kriecht mir in die Nase … Ehrlich, so eine Radreise entbehrt jeglicher Romantik. Na ja, wir sind keine großen Romantiker. Vielleicht werden wir das noch – auf den nächsten Reisen“, schmunzelt sie. Philipp hat ebenso eine ambivalente Sichtweise: „Die schönsten Strände, höchsten Berge, ein sensationeller Sonnenaufgang: Ja, das gibt es auch – aber bei weitem nicht immer. Die Realität sind oft gefährliche Straßen, Dieselruß und Schweiß, verdreckte Unterkünfte, schlechtes Essen und gechlortes Wasser. Aber auch einer Kübeldusche nach einem langen heißen Tag auf der staubigen Straße kann man eine gewisse Romantik nicht abstreiten.“
Straße
Valeska erzählt über die Faszination Vietnam. „Es wimmelt vor Menschen auf der Straße – und das Chaos funktioniert, weil man bremst, schaut, reagiert. Begegnungszonen überall. Die Straße als Gleichnis: Eine Verbindung zwischen Menschen, Ländern, Kulturen. Straßen sollten verbinden, zum Kennenlernen, Austausch und nicht zum Krieg führen genutzt werden. Die Straße sollte für alle da sein – egal ob jemand zu Fuß, per Zweirad oder mit dem Auto unterwegs ist.“ Für Philipp waren Straßen immer eine Verbindung zwischen A und B. „Aber auch ein Weg, Länder und Kulturen zu erfahren. Die Straße als Treffpunkt, wie etwa in Afrika, Asien oder Indien, gibt es bei uns so gut wie nicht mehr. Mit Begegnungszonen und Spielstraßen versucht man bei uns, das Miteinander der Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer wieder auferstehen zu lassen. Ein Schritt in die richtige Richtung.“
Glück
Für Valeska ist es: „Draußen-Sein bei Regen, Wind, Schnee, Sonne – stundenlang, tagelang. Wunderbar! Das hat Suchtpotenzial. Wenn wir zum Beispiel in Alaska, Kanada und Australien unterwegs waren und im Zelt schliefen, haben wir oft wochenlang kein Haus betreten. Nach der Reise kam ich mir regelrecht ,eingesperrt‘ vor im Haus. Heute ist das Draußen-Sein in der Natur eine Kraftquelle, und, wie schon Christiane Ritter (Anm.: 1935, „Eine Frau erlebt die Polarnacht“) sagte: ,Die Natur hat alles, was der Mensch braucht.‘“
Komfortzone
Philipp resümiert: „Für jeden hört sie woanders auf. Im Wald, wenn es dunkel wird, im Gasthaus, in dem niemand deine Sprache spricht, oder wenn der Grizzlybär dir beim Radfahren in Alaska hinterherhetzt. Bei unseren Radreisen ist man recht rasch aus seiner Komfortzone hinausgeradelt. Aber mit dem Vorankommen verschiebt sich die persönliche Komfortzone. Das Reisen mit seinen schönen und anstrengenden Facetten wird zum neuen Alltag und zum neuen Zuhause. Ohne das Verlassen der ursprünglichen Komfortzone würde es keine Weltentdeckerinnen und Weltentdecker geben.“