Die Zeiten der rekordhohen kurzfristigen Zinsen im Euroraum sind wohl bald vorbei. Denn der anhaltende Rückgang der Inflation in der 20-Länder-Gemeinschaft dürfte die Währungshüter der EZB immer stärker unter Zugzwang setzen, in den kommenden Monaten die geldpolitischen Schalter in Richtung Zinssenkung umzulegen. Zwar erwarten Volkswirte, dass die EZB auf ihrer Zinssitzung am kommenden Donnerstag in Frankfurt die Füße erneut stillhalten und an den Schlüsselzinsen nicht rütteln wird.
Damit dürfte der Einlagensatz bei 4,00 Prozent und der Leitzins bei 4,5 Prozent belassen werden. Doch Experten rechnen mit einer lebhaften Diskussion darüber, wann nun der richtige Zeitpunkt für die Zinswende gekommen sein wird.
„Angesichts des weiteren Rückgangs der Inflation und der nach wie vor schwachen Konjunktur in der Eurozone wird die Debatte über Zinssenkungen auf der EZB-Sitzung am Donnerstag heftiger denn je geführt werden“, meint etwa ING-Chefvolkswirt Carsten Brzeski. Alle Augen würden zudem auf etwaige Änderungen in der Kommunikation der Währungshüter gerichtet sein sowie auf Hinweise zu ihren nächsten Schritten. Die Verbraucherpreise in der Eurozone waren im Februar binnen Jahresfrist nur noch um 2,6 Prozent gestiegen. Im Jänner hatte die Inflation noch bei 2,8 Prozent gelegen, im Dezember bei 2,9 Prozent. Damit rückt das EZB-Ziel einer Teuerungsrate von 2,0 Prozent immer mehr in Reichweite.
Auf der Sitzung in dieser Woche werden den Währungshütern auch neue Inflations- und Konjunkturprognosen der EZB-Volkswirte vorliegen. Diese vierteljährlich veröffentlichten Vorhersagen gelten als wichtiger Entscheidungsfaktor für die Währungshüter. „Da der Preisdruck im ersten Quartal geringer ausfallen dürfte als in den Projektionen der EZB unterstellt, dürfte die Inflationsschätzung für das Gesamtjahr 2024 leicht nach unten revidiert werden“, schätzt DZ-Bank-Analyst Christian Reicherter. Die Dezember-Projektionen hatten noch 2,7 Prozent Teuerung für 2024 veranschlagt. Die Volkswirte der US-Bank Morgan Stanley erwarten eine neue Prognose von 2,3 Prozent.
Aus Sicht von EZB-Präsidentin Christine Lagarde wird sich die Inflation im Euroraum weiter abschwächen. Die Auswirkungen der vergangenen Schocks, die die Teuerung hochgetrieben hätten, würden verblassen. Und die straffen Finanzierungsbedingungen trügen dazu bei, die Inflation nach unten zu drücken, sagte sie unlängst im EU-Parlament. Sorge bereitet den Euro-Wächtern aber nach wie vor der hohe Lohndruck. „Trotz der schwächeren Konjunktur und des allmählich schwächeren Arbeitsmarktes bleiben die Löhne das größte Risiko beim Inflationsausblick“, meint Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer.
Erste Senkung im Juni?
In den vergangenen Wochen hatten manche Währungshüter darauf hingewiesen, dass Lohndaten aus neuen Tarifabschlüssen in den Euro-Ländern erst im Mai vorliegen werden. Diese Daten gelten als wichtige Wegmarke für die EZB, um abschätzen zu können, wie sich die Inflation im laufenden Jahr weiterentwickeln wird. „Wir erwarten, dass sich Frau Lagarde an das gut geprobte Skript halten wird, dass die EZB vorsichtig und umsichtig sein muss und die kritisch wichtigen Daten zum Lohnwachstum im ersten Quartal abwarten wird, bevor sie mit Zinssenkungen beginnen kann“, meint Andrzej Szczepaniak, Europa-Volkswirt des japanischen Bankhauses Nomura.
In der jüngsten Umfrage der Nachrichtenagentur Reuters waren 46 von 73 Volkswirten – das sind 63 Prozent – davon ausgegangen, dass die EZB erstmals im Juni die Zinsen senken wird, und zwar um einen viertel Prozentpunkt. Aus den Kursen am Geldmarkt geht aktuell hervor, dass die Wahrscheinlichkeit eines ersten Schritts nach unten auf der Juni-Zinssitzung mit 73 Prozent veranschlagt wird. Für das Zinstreffen am Donnerstag wird die Wahrscheinlichkeit einer Zinssenkung dagegen nur mit sieben Prozent taxiert.