Wir sollten Fragen stellen, statt wie Schafe Dingen willenlos hinterherzulaufen.“ Jim Ratcliffe spricht ruhig, entschlossen. Keine Show, sagen, was Sache ist. 71 Jahre ist er jetzt, man glaubt es kaum. Großgewachsen, drahtig, asketisch wirkt der Sportler, Abenteurer und Wirtschaftskapitän, der die chemische Industrie und die Welt des Sports mit seinem Unternehmen Ineos in grundlegend verändert hat. Ratcliffe gilt als einer der reichsten Briten mit einem Milliardenvermögen. Sein Unternehmen zählt rund 26.000 Mitarbeiter weltweit.
Heute geht es eigentlich um das erste E-Auto, Fusilier, das Ineos auf den Markt bringen wird. Aber das Gespräch dreht sich viel weiter, um Auto-Antriebe, EU, Steuern, Energiekosten und natürlich um einen der bekanntesten Fußballklubs der Welt, Manchester United. Ratcliffe, oder Sir Jim, wie er genannt wird, ist nach langem Tauziehen eingestiegen und soll als Ur- und Edelfan wie ein Heilsbringer den wankenden Giganten wieder stabilisieren. Der Klub ist das nächste Juwel im hauseigenen Sportimperium zwischen Formel 1 (ihm gehören 33 Prozent des Mercedes-Rennstalls), Radrennstall (Tour-de-France-Gewinner Ineos), America’s-Cup-Boot und weiteren Fußballklubs. Sir Jim ist auch im echten Leben ein Abenteurer, von der Polexpeditionen bis zur extremen Autotour.
Sein Wort hat Gewicht
Rund 25 internationale Journalisten hören heute Ratcliffe zu, dicht gedrängt in einem Londoner Pub, das in einer engen Seitengasse liegt. An der Decke des Pubs hängen alte Geldscheine als Souvenirs aus aller Welt, der Boden ist abgenutzt. Hyde Park, Buckingham und Kensington Palace, alles in Schlagdistanz. Das Pub war einmal eine winzige Offiziersmesse, hier entwarf Ratcliffe mit Freunden das ganze Autoprojekt auf Bierdeckeln und Servietten und kaufte später das unverkäufliche Pub. Er bestätigt, dass sein erstes Elektroauto bei Magna in Graz ab 2027 produziert werden soll, kommt ins Reden. Solche Auftritte von Ratcliffe sind rar. Er meidet das Rampenlicht, führt mit Vertrauten ein gigantisches, milliardenschweres Unternehmen aus dem Hintergrund. Was er heute sagt, hat umso mehr Gewicht.
Spektakuläre Lebensgeschichte
Seine Lebensgeschichte liest sich spektakulär. Aufgewachsen sei er zuerst in einer Sozialwohnung, in Sichtweite des Stadions von Manchester United, Old Trafford. Sein Vater war Tischler, der sich später selbstständig machte, seine Mutter Buchhalterin. Er besuchte eine staatliche Schule und studierte Chemie-Ingenieurswesen. Nach seinem Berufseinstieg bei Esso und einem Kunstfaserhersteller wechselte er in den späten 80er-Jahren ins Private-Equity-Geschäft, ein rastloser Wanderer zwischen den Welten. Und auch ein Hasardeur, wenn es sein musste. Mit 40 nahm er einen zweistelligen Millionen-Euro-Kredit auf, um ins Geschäft zu kommen. Als Sicherheiten setzte er Haus und Altersversorgung ein. In einem Interview mit der „Financial Times“ aus dem Jahr 2014 gab er auch zu, dass das „ein kritischer Teil des Karriereweges gewesen“ sei. Wenn das schiefgegangen wäre, hätte er das Geld verloren und die Karriere ruiniert.
Von der Chemie bis zur Mode
Der Plan ging auf, instinktsicher machte er weiter, setzte sein Vermögen ein, kaufte kleinere, oft nicht gut bewertete Spezialfirmen auf, sanierte sie konsequent und baute mit seinen Partnern wie aus einem kleinteiligen Puzzle einen der größten Chemiekonzerne der Welt auf. Wahrscheinlich haben wir tagtäglich etwas aus Ratcliffes Imperium in Händen. Vom Kunststoff bis zu Pharmaprodukten, alles im Portfolio. Gleichzeitig baute er riesige Anlagen zur Herstellung von Rohstoffen aus Kunststoffabfällen, oder kauft die marode Mode-Firma Belstaff und modelt sie auf.
Neue Spielregeln
So erfolgreich Ratcliffe heute ist, so schwierig war der Weg. Ratcliffe wich keinem Konflikt aus – ob mit der Gewerkschaft, seine Unterstützung des Brexits oder der Politik. Seine Entschlossenheit, die Spielregeln zu verändern, wenn er etwas nicht ändern kann, ist bekannt. Ein Krach mit der Regierung führte zum Beispiel dazu, dass er seinen Unternehmenssitz temporär in die Schweiz umsiedelte. Als er Gastransport für seine Chemiewerke neu ordnen wollte, ließ er acht Schiffe nach seinen Vorstellungen in China bauen. Diese „Dragon Ships“ sind die modernsten Gastransporter der Welt. Er kaufte Gasfelder, setzte auf Schiefergasförderung.
Kritik steckt er mit seiner „dicken Haut aus einer harten Kindheit“ weg, die Struktur seiner Entscheidungsfindung beruht auf Daten, Fakten. Hört man tiefer in sein Imperium, wird schnell klar: Schwätzer, Selbstdarsteller und Bürokraten werden in Ratcliffes Imperium nicht alt. Das verbietet schon der Ineos-Kompass, in dem die klaren Firmen-Leitlinien festgelegt sind.
Sein Charakter
Im Autoprojekt sind die Vorstandsvorsitzende Lynn Calder und der Steirer Hans-Peter Pessler (Technik-/ Entwicklungsvorstand) die Taktgeber. Fragt man Lynn nach den drei wesentlichen Charaktermerkmalen ihres Chefs, sagt sie: „Erstens will er keine Sekunde des Lebens vergeuden. Zweitens: Er pusht die Limits immer weiter nach oben, aber mit klaren Ansagen – und verschiebt so die Grenzen des Machbaren. Drittens ist er geerdet, redet mit jedem gleich.“
Wie er tickt, wird im Gespräch im Pub schnell klar. Die großen Zusammenhänge der Wirtschaft kann er mit einer Makroaufnahme der täglichen Konsequenzen verlinken, bei der E-Mobilität genauso wie bei Gas- und Wasserstoffpreisen, synthetischen oder Bio-Kraftstoffen. Da fällt auch der Vergleich mit den Schafen, und dass das E-Auto nicht die einzige Mobilitätslösung sei. Deshalb hat er für sein E-Auto Fusilier eine zweite Option gezogen, mit einem kleinen Motor als Reichweitenverlängerer, der über einen Generator die Batterie mit Energie versorgt. Gleichzeitig betont er, wie wichtig es sei, den CO₂-Fußabdruck zu verringern und dass selbst er in Städten auf ein kleines E-Auto zurückgreift. Aber es sei wichtig, alles zu hinterfragen. Wenn notwendig, auch die Spielregeln.