Das EU-Lieferkettengesetz hat erneut die benötigte qualifizierte Mehrheit unter den EU-Staaten verfehlt. Das teilte die belgische Ratspräsidentschaft am Mittwoch auf der Online-Plattform X (ehemals Twitter) mit. Man prüfe jetzt, wie man die Vorbehalte mehrerer Mitgliedstaaten gemeinsam mit dem EU-Parlament angehen könnte, heißt es in dem kurzen Statement.
Eigentlich haben sich die EU-Mitgliedstaaten (Rat) zusammen mit dem Europaparlament bereits auf einen gemeinsamen Kompromisstext geeinigt. Beide Institutionen müssen diesen aber noch final absegnen. Bereits Mitte Februar war dies bei einer Zusammenkunft der EU-Botschafter nicht möglich, weshalb die Abstimmung im Rat vertagt wurde.
Gruppe von Staaten legte sich quer
Wegen Meinungsverschiedenheiten in der Regierungskoalition in Berlin hatte Deutschland angekündigt, sich zu enthalten. Auch Österreichs Wirtschaftsminister Martin Kocher (ÖVP) gab bekannt, das Wien sich bei der Abstimmung enthalten werde. Zudem dürften auch andere Länder, darunter Italien, sich quergelegt haben. Damit der Text im Rat (in dem die EU-Staaten vertreten sind) verabschiedet werden kann, wäre eine qualifizierte Mehrheit (55 Prozent - also 15 von 27 Mitgliedstaaten, die mindestens 65 Prozent der Bevölkerung abbilden) im Ausschuss der EU-Botschafter nötig.
Parallelen zum EU-weiten Verbrenner-Aus bis 2035
Eine vergleichbare Situation (wenn auch mit weniger Zeitdruck) gab es bereits beim EU-weiten Verbrenner-Aus bis 2035. Auch hier hatte Deutschland im letzten Moment blockiert. Am Ende wurde damals mithilfe eines sogenannten delegierten Rechtsaktes eine Lösung gefunden, um auf Deutschlands Bedenken einzugehen, ohne den ausverhandelten Text an sich erneut anzurühren.
Durch das EU-Lieferkettengesetz sollen große Unternehmen - mit mehr als 500 Mitarbeitern bzw. in Risikosektoren mit mehr als 250 Mitarbeiterinnen - zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie etwa von Kinder- oder Zwangsarbeit außerhalb der EU profitieren. Größere Unternehmen müssen zudem einen Plan erstellen, der sicherstellt, dass ihr Geschäftsmodell und ihre Strategie mit der Einhaltung der Pariser Klimaziele zur Begrenzung der Erderhitzung vereinbar sind.
„Historische Chance verpasst“
Österreichs Justizministerin Alma Zadić (Grüne) bezeichnet den heutigen Ausgang in einer Aussendung als „bitter“. Anders als Kocher hatte sie in der Vergangenheit eine Zustimmung Österreichs gefordert. „Damit wurde eine historische Chance verpasst, Millionen von Kindern vor Ausbeutung zu schützen und unsere Umwelt vor weiterer Zerstörung zu bewahren“, so Zadić. Sie betonte aber, dass sie trotz des heutigen Rückschlags nicht aufgeben wolle. „Ich werde mich weiter auf allen Ebenen für den Schutz von Kindern, der Natur und der Menschenrechte einsetzen“, heißt es in dem Statement.Für den Beschluss wäre eine qualifizierte Mehrheit (55 Prozent der Mitgliedsstaaten bzw. 15 von 27 oder Mitgliedsstaaten die 65 Prozent der Bevölkerung abbilden) im Ausschuss der Ständigen Vertreter der EU-Mitgliedsstaaten nötig gewesen.
Weitere Verhandlungen gefordert
Laut Wirtschaftsminister Kocher zeigt das heutige Ergebnis, „dass neben Österreich auch zahlreiche andere Länder Bedenken an der Umsetzbarkeit des vorliegenden Entwurfs hatten,“ sagte er in einer Aussendung. Die Ziele der Lieferkettenrichtlinie unterstütze man aber. „Wir haben weitere Verhandlungen gefordert und hoffen, dass die Gespräche nun wiederaufgenommen werden.“
„Wir dürfen das EU-Lieferkettengesetzt noch nicht beerdigen“, fordert die SPÖ-EU-Abgeordnete und Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Evelyn Regner. „Es darf hier kein Präzedenzfall entstehen, bereits verhandelte Gesetze in letzter Minute wieder aufzubrechen.“
„Eine Schande“
SPÖ-Europasprecher Jörg Leichtfried kritisiert die durch ÖVP-Wirtschaftsminister Kocher unterstützte Blockade für ein neues EU-Lieferkettengesetz scharf. „Dass Österreich mit dabei ist, einen ausverhandelten Kompromiss zu Fall zu bringen, ist eine Schande. Das Lieferkettengesetz wäre ein wichtiger Schritt im Kampf gegen Kinderarbeit, Zwangsarbeit und Umweltverbrechen. Dass die Grünen in der Koalition wieder einmal hilflos sind gegen die ÖVP, die Politik im Sinne der Konzernlobbys macht, ist schwer enttäuschend.“
„Bürokratiemonster“ abgewendet
Die Industriellenvereinigung (IV) wies in den vergangenen Wochen und Monaten intensiv auf die Schwierigkeiten in der Umsetzbarkeit des aktuellen Vorschlags hin: „Mit dem heutigen Beschluss wurde zu Recht in letzter Minute ein massiver Wettbewerbsnachteil für den europäischen Wirtschafts- und Industriestandort verhindert. Der vorliegende Entwurf war zwar gut gemeint, aber nicht gut gemacht.“ Mit dem heutigen Ergebnis sei ein „drohendes Bürokratiemonster“ vorerst abgewendet werden.
„Massives Lobbying“
ÖGB und AK kritisieren hingegen, dass sich das Big Business gegen das Lieferkettengesetz durchgesetzt habe. Die gescheiterte Abstimmung sei das Ergebnis von massivem Lobbying der Wirtschafts- und Industrieverbände in Österreich und anderen EU-Staaten.
AK-Expertin Sarah Bruckner: „Deutschland und Frankreich haben bereits Lieferkettengesetze. Die Blockade des EU-Lieferkettengesetzes ist nicht nachvollziehbar, denn es wäre von Vorteil, wenn überall in der EU die gleichen Regeln gelten – auch viele Unternehmen sehen das so. Wirtschafts- und Industrieverbände stemmen sich aber dagegen und haben massiv lobbyiert. Dabei stellt sich die Frage: In wessen Interesse? Viele Unternehmen, die bereits jetzt auf saubere Lieferketten achten, unterstützen das EU-Lieferkettengesetz, weil es für fairen Wettbewerb sorgt. Big Business will im alten Stil weitermachen. Das ist nicht akzeptabel.“
„Pflichtverletzung gegenüber Menschenrechten“
Südwind und NeSoVe kritisieren Minister Kochers Enthaltung: Österreich und Deutschland würden eine schändliche Rolle bei der weiteren Blockade des EU-Lieferkettengesetzes spielen. “Österreichs Beteiligung an der Blockade des ausgehandelten Kompromisses ist eine Pflichtverletzung in Bezug auf die Menschenrechte”, sagt Gertrude Klaffenböck, Südwind-Koordinatorin der Clean Clothes Kampagne in Österreich. “Das ist zudem ein verheerendes Signal: Vergehen gegen Menschenrechte und Umweltbestimmungen bleiben weiterhin ungestraft. Die Politik schützt damit noch länger Konzerne auf Kosten der Rechte, des Lohns und der Sicherheit jener Arbeiter:innen, die etwa unsere Kleidung, Lebensmittel, oder Elektronikprodukte herstellen.”