Womöglich schon Ende März? Oder im April? Im Juni? Im Sommer? Die vergangenen Wochen waren von zahlreichen Spekulationen und – teils divergierenden – Analysteneinschätzungen geprägt. Alles kreist um die Frage, wann die Europäische Zentralbank im Kampf gegen die Inflation die Zügel wieder lockern wird: Bei den letzten beiden Zinssitzungen wurden, nach zuvor zehn Zinserhöhungen in Folge, die Schlüsselzinssätze nicht angetastet. Das wird auch heute, bei der ersten EZB-Ratssitzung im neuen Jahr, so sein. Mehr denn je werden aber wohl die Worte von EZB-Präsidentin Christine Lagarde im Nachgang auf die sprichwörtliche Goldwaage gelegt werden. In der Hoffnung, Anhaltspunkte auf einen möglichen Zeitpunkt herausfiltern zu können. Die Beschlüsse werden um 14.15 Uhr veröffentlicht und um 14.45 Uhr von EZB-Chefin Christine Lagarde in einer Pressekonferenz erläutert.
Der am Finanzmarkt maßgebliche Einlagensatz, den Banken erhalten, wenn sie überschüssige Gelder bei der Notenbank parken, liegt bei vier Prozent. Der Leitzins, zu dem sich Banken frisches Geld bei der Notenbank besorgen können, steht bei 4,5 Prozent.
Ab Herbst des letzten Jahres ist insbesondere an den Aktienmärkten eine regelrechte Zinssenkungseuphorie entbrannt. Im vierten Quartal 2023 sind die Kurse – befeuert von der Erwartung, dass die Zinsen schneller sinken könnten als noch im Jahresverlauf angenommen – kräftig gestiegen. Viele EZB-Ratsmitglieder waren daher in den letzten Wochen damit beschäftigt, diese Euphorie wieder etwas einzufangen, indem etwa appelliert wurde, den Kampf gegen die Inflation zu früh für beendet zu erklären. Vom EZB-Inflationsziel von zwei Prozent hat sich die Euro-Zone, ganz zu schweigen von Österreich, zuletzt wieder etwas wegbewegt. In der Euro-Zone lag die Inflationsrate im Dezember bei 2,9 Prozent, nach 2,4 Prozent im November. Noch im Herbst 2022 hatte sie zeitweise freilich bei über zehn Prozent gelegen.
Es könnte daher sein, dass Lagarde auch heute primär darauf ist, entsprechende zinspolitische Erwartungshaltungen zu dämpfen. Die Französin hatte Mitte Jänner aber immerhin bestätigt, dass man sich auf dem richtigen Pfad zu zwei Prozent Inflation befinde. Sie sei nun zuversichtlich, dass die EZB dieses mittelfristige Ziel erreichen werde, sagte sie zu Bloomberg TV. Erwartungen an den Finanzmärkten, wo eben bereits auf eine erste Zinssenkung im März oder April gesetzt wird, wollte Lagarde nicht kommentieren. „Börsen machen ihre Arbeit, sie haben ihre Zahlen, sie haben ihre Ziele“, sagte sie. Sollten sie das Vorgehen der EZB falsch interpretieren, könnte dies Lagarde zufolge aber die Arbeit der EZB erschweren, die Inflation zu bekämpfen. „Die Märkte sind da zu voreilig, das ist ziemlich klar“, sagte auch EZB-Ratsmitglied Klaas Knot, Notenbankchef der Niederlande.
Konjunkturlage besorgniserregend
Zuletzt wurde an den Finanzmärkten mit einer Wahrscheinlichkeit von 23 Prozent davon ausgegangen, dass die EZB bereits im März erstmals wieder die Zinszügel lockern wird. Für eine Zinssenkung im April wird die Wahrscheinlichkeit sogar bereits mit 93 Prozent taxiert.
Umgekehrt wird wohl auch die Konjunkturlage in der Euro-Zone weiterhin mit Besorgnis verfolgt. Laut EZB-Vizepräsident Luis de Guindos könnte die Eurozone vor der Jahreswende in eine technische Rezession abgerutscht sein.