Mit 4,25 Prozent markierte der Leitzins der Europäischen Zentralbank (EZB) im Juli 2008 einen neuen Rekordwert. Doch dann brach die Finanzkrise über die Welt herein und es ging im Monatstakt steil bergab: Zwölf Monate später lag der Leitzins nur noch bei 1,5 Prozent. Die Zinswende ließ dann unglaubliche 14 Jahre, bis Juli 2022, auf sich warten – erst diesen Sommer wurden die 4,25 Prozent eingestellt. Derzeit markieren – nach einer beispiellosen Serie von zehn Zinserhöhungen – 4,5 Prozent den neuen Höchstwert. Doch die Finanzwelt zappelt schon nervös: Je früher sich die Zinskurve den Weg nach unten bahnt, desto besser, lautet das Mantra. Denn die Richtung des Inflationspfades stimme ja. Damit sind auch im neuen Jahr alle Blicke auf EZB-Präsidentin Christine Lagarde und den Chef der US-Notenbank Fed, Jerome Powell, gerichtet.
Erste Zinssenkungen im März oder April?
Klar ist: So flott wie 2008, nach Lehman-Pleite und Bankenbeben, marschiert der Zins 2024 aber gewiss nicht in den Keller, da sind sich alle einig. Einigkeit herrscht auch, dass 2024 das Jahr der Zinswende werden wird. Zinssenkungen der EZB im Ausmaß von 1,5 Prozent – das entspricht sechs Zinssenkungsschritten zu 25 Basispunkten (0,25 Prozent) – sind bereits in den Kursen eingepreist. Tritt das tatsächlich ein, fällt der Einlagenzinssatz zu Jahresende von derzeit 4,0 auf bei 2,5 Prozent, der Leitzins, zu dem sich Banken Geld leihen, von 4,5 auf 3,0 Prozent. Ab März oder April wird mit ersten Zinssenkungen gerechnet.
„Manche haben sich verspekuliert“
Doch der Grat zwischen den verbreiteten Zinssenkungsfantasien und Zinsspekulationen ist schmal und brüchig. Der Ausblick auf sinkende Zinskosten euphorisiert die Märkte derzeit geradezu, das spiegelt sich in Rekordständen an einigen Börsen. Werden die Hoffnungen enttäuscht, droht neuer Frust. Daher bemühen sich daher Notenbanker in Europa und in den USA, wo die Fed die Zinsen noch restriktiver und früher nach oben schraubte, überhitzte Erwartungen mit viel Eis zu kühlen. Zwar legten die Verbraucherpreise in der Eurozone im November im Jahresvergleich nur noch um 2,4 Prozent zu (und damit das 2-Prozent-Ziel der EZB erstmals wieder in Griffweite), doch Rückschläge in der Inflationsbekämpfung sind wahrscheinlich. Eine Diskussion über mögliche Zinssenkungen sei verfrüht, warnte etwa Österreichs Nationalbank-Gouverneur Robert Holzmann. Inflationsbekämpfung gleiche einem Marathon, die letzten Meter seien die schwierigsten. Dass der Zinshöhepunkt „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ erreicht sei, bestätigte auch Bundesbank-Präsident Joachim Nagel. Aber: „Allen, die deshalb gleich auf eine baldige Zinssenkung spekulieren, sage ich: Vorsicht, es haben sich schon manche verspekuliert.“
Zarter Aufschwung in Sicht
Das Ziel der einzigartigen Zinserhöhungsstaffel 2022/2023, die dynamische Nachfrage einzubremsen und damit die zuvor überhitzte Wirtschaft abzukühlen, wurde zwar erreicht – oder sogar übererfüllt, abzulesen an der schrumpfenden Wirtschaft, die Teile des Euroraums plagt. Für das kommende Jahr sagen die Wirtschaftsforscher von Wifo und IHS 0,9 bzw. 0,8 Prozent Wirtschaftswachstum voraus, nach einem Schrumpfen im ähnlichen Ausmaß 2023. Ermöglichen sollen den zarten Aufschwung, erklärt Wifo-Chef Gabriel Felbermayr, steigende Reallöhne und ein stabiler Arbeitsmarkt. Ganz anders als Bau und Industrie, die sich (noch) gar nicht oder nur schleppend erholen werden.
Aber wohin entwickelt sich der „Casus Belli“, die den „Krieg“ gegen den Flächenbrand der Teuerung auslösende Inflationsrate? Nach unten. Nach 7,9 (Wifo) bzw. 7,8 Prozent (IHS) im (ab)laufenden Jahr auf 4,0 bzw. 3,9 Prozent 2024. Aber weiter deutlich über der Zielmarke, die die EZB anstrebt – das sind 2 Prozent. Und vor allem höher als die Inflation im Euroraum insgesamt. Die Geldentwertung dürfte 2024 in Österreich um knapp 1 Prozent höher liegen als bei den Euronachbarn, einmal mehr. Und auch für 2025 sehen die Wirtschaftsforscher die Inflationsrate in Österreich noch bei oder über 3 Prozent.
Krisenresistenter Arbeitsmarkt
Dass sich der Arbeitsmarkt bisher resistent gegen den Abschwung erwies, ist zweifellos auf der Habenseite zu verbuchen. Die Arbeitslosenquote steigt 2023 von 6,3 auf 6,4 Prozent, auch, weil seit März Vertriebene aus der Ukraine statistisch erfasst werden. Die Aussichten sind jedenfalls angesichts der begrenzt erbaulichen Wirtschaftsdaten moderat erfreulich: Das Wifo rechnet mit unveränderten Arbeitslosenraten, das IHS mit einem Anstieg um 0,2 Prozentpunkte – 2025 soll die Arbeitslosenrate wieder auf sinken – auf 6,0 bzw. 6,3 Prozent.
Glaubt man den Wirtschaftsexperten von Wifo und IHS, durchschreiten wir dieser Tage die Talsohle der Konjunktur, mit dem neuen Jahr soll es wieder leicht bergauf gehen. Wann aber die EZB die Zinsen tatsächlich senkt, bleibt abzuwarten. Selbst Vertreter der rezessionsgeplagten deutschen Wirtschaft warnten kürzlich vor überhasteten Schritten, denn erst stabile Preise schafften Verlässlichkeit und Planbarkeit. Erst wenn sich die Inflation nachhaltig auf niedrigen Niveau stabilisiert habe, dürfe die EZB die Zinskeule wieder einpacken. Nun dann, das kann noch länger dauern.