Volkswirte rechnen nach einer Umfrage der Nachrichtenagentur Reuters mehrheitlich mit einer ersten Zinssenkung der EZB im zweiten Quartal des kommenden Jahres. Rund 57 Prozent der befragten Ökonomen - 51 von 90 Teilnehmern - gingen davon aus, dass die Europäische Zentralbank (EZB) mindestens einmal vor ihrer Zinssitzung im Juli die Schlüsselsätze nach unten setzen wird, wie die am Donnerstag veröffentlichte Erhebung zeigte. Das ist früher als die Ökonomen zuletzt prognostiziert hatten. In der November-Umfrage hatten noch 55 Prozent der Teilnehmer damit gerechnet, dass die EZB bis zur Jahresmitte 2024 ihre Füße stillhalten wird.

Inflationsrate

Die Verbraucherpreise in der Eurozone waren im November nur noch um 2,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat gestiegen. Das ist seit Juli 2021 die niedrigste Rate. Im Herbst 2022 hatte die Inflation zeitweise sogar bei über zehn Prozent gelegen. Angesichts dieses deutlichen Rückgangs kann die EZB aus Sicht ihrer Direktorin Isabel Schnabel ihre Tür für weitere Zinserhöhungen vorerst schließen. Die jüngste Inflationszahl habe eine weitere Zinserhöhung eher unwahrscheinlich gemacht, hatte sie in einem am Dienstag veröffentlichten Interview der Nachrichtenagentur Reuters gesagt. Noch vor einem Monat hatte sie dazu geraten, mögliche weitere Anhebungen nicht vom Tisch zu nehmen.

In Österreich war die Teuerungsrate laut Schnellschätzung der Statistik Austria mit 5,4 Prozent im November nach wie vor deutlich höher als im Schnitt der Euro-Länder.

Einigkeit zum 14. Dezember

Alle 90 Volkswirte in der Umfrage waren der Ansicht, dass die Währungshüter den am Finanzmarkt maßgeblichen Einlagensatz auf ihrer bevorstehenden EZB-Zinssitzung in der kommenden Woche am 14. Dezember konstant halten werden. Damit würde der Satz auf dem derzeitigen Rekordhoch von 4,00 Prozent bleiben. Wird der Median in der Umfrage herangezogen, rechnen die Ökonomen beginnend ab dem zweiten Jahresviertel 2024 pro Quartal mit Zinssenkungen um jeweils 0,25 Prozentpunkte. Am Finanzmarkt wird hingegen bereits mit deutlich umfangreicheren Schritten nach unten gerechnet. Dort sind für 2024 Zinssenkungen im Gesamtumfang von rund 1,50 Prozentpunkten in den Kursen enthalten. Reuters befragte die Volkswirte vom 1. bis zum 6. Dezember.

„Disflation schreitet schneller voran, als wir dachten“

EZB-Ratsmitglied Francois Villeroy de Galhau, er ist auch Frankreichs Notenbankchef, sagte der französischen Zeitung „La Depeche du Midi“ in einem am Mittwoch veröffentlichten Interview, dass „die Disinflation schneller voranschreitet, als wir dachten“. Aus diesem Grund werde es, wenn es keine Schocks gebe, keine neue Zinserhöhung geben. Die Frage einer Zinssenkung könnte sich im Jahr 2024 stellen, „aber nicht jetzt“, ergänzte er.

„Wir waren zu vorsichtig“

Die Deutsche Bank rechnet für das kommende Jahr mit größeren Zinssenkungen der Europäischen Zentralbank (EZB) als noch zuletzt. „Vor dem Hintergrund der jüngsten Inflationsdaten und dem Ton offizieller Kommentare befürchten wir, dass wir zu vorsichtig gewesen sind,“ schrieben die Volkswirte des deutschen Bankenprimus in einer am Mittwoch veröffentlichten Studie zur EZB. Die Ökonomen erwarten nun, dass die Euro-Notenbank die Zinsen 2024 um insgesamt 1,50 Prozentpunkte senken wird. Zuletzt hatten sie mit 1,00 Prozentpunkten gerechnet. Den ersten Schritt nach unten erwarten sie im April. Aber auch eine Senkung bereits im März halten sie nicht ganz für ausgeschlossen.