Eigentlich ist der Blick zurück nutzlos. Alle paar Monate verdoppelte sich zuletzt die Leistungsfähigkeit von Systemen künstlicher Intelligenz (KI), neue Anwendungen poppen täglich wie frische Pilze zur besten Jahreszeit aus dem Boden. Und doch geschieht vor einem Jahr Bedeutsames, das förmlich zur analytischen Rückschau drängt. Am 30. November 2022 passiert KI nämlich ein iPhone-Moment. Ein Ereignis, das in dieser Dimension niemand abschätzen kann. Auch nicht jene, die sich schon seit Jahrzehnten mit den Möglichkeiten selbstlernender Algorithmen auseinandersetzen.
OpenAI, ein erst 2015 gegründetes US-Unternehmen, macht seinen Chatbot ChatGPT öffentlich zugänglich. Dieser erlebt Zuneigung wie kaum eine Technologie zuvor. Die Menschheit fragt, die Maschine antwortet. Zu Beginn inhaltlich oft inkorrekt, aber stets in wunderschön formulierten Sätzen. Das begeistert und beeindruckt. Schon fünf Tage nach dem Start zählt ChatGPT eine Million Nutzer. Eine Marke, die Instagram nach zweieinhalb Monaten und Netflix nach dreieinhalb Jahren erreichte.
180,5 Millionen Userinnen und User
Im Jänner wird bekannt, dass Microsoft zehn Milliarden US-Dollar in OpenAI stecken wird. Heute sind es 180,5 Millionen Userinnen und User, die ChatGPT konsultieren, die Webseite openai.com zählte im September 1,5 Milliarden Zugriffe. Unternehmen wie Google oder Meta, die stets als Vorreiter in Sachen KI galten, kamen plötzlich unter massiven Zugzwang und präsentierten rasch eigene Sprachmodelle (LLMs).
KI ist heute kein „nerdiges und nischiges Thema wie vor zehn Jahren“, erinnert sich Jeannette Gorzala, Vizepräsidentin des European AI Forum, am Rande des „AI Governance Forum“ an der Karl-Franzens-Universität. „ChatGPT brachte künstliche Intelligenz in die breite Masse.“
Zahlen zu diesem Befund gibt es en masse. In Deutschland verwendet laut einer Umfrage des Branchenverbands Bitkom jede und jeder Dritte ChatGPT. Davon wiederum knapp 50 Prozent im Arbeitsumfeld. Microsoft ist kurz davor, einen KI-Copiloten in sämtliche Office-Programme zu integrieren. Die Frage ist also längst nicht mehr, ob KI unseren Alltag verändert. Die Frage ist, wie und wo sie in welcher Ausprägung einwirkt.
Aleph Alpha, Mistral, Anthropic & Co.
„Keine KI ist keine Option“, plaudert auch Thomas Zenz, Inhaber der Kommunikationsagentur Doppelpunkt, aus dem Nähkästchen. In jener Branche, in welcher KI eine der größten Disruptionen auslösen könnte, blickt man pragmatisch auf das Thema. „Sie ist da und wir müssen sie einsetzen“, sagt Zenz, der jedem Kopf seiner Belegschaft sechs Wochenstunden persönliches KI-Studium verordnete – „aber Panik verspüre ich keine“.
Mit dem globalen Interesse steigen auch die weltweiten Investitionen in KI-Versprechungen. Egal ob Aleph Alpha in Deutschland, Mistral in Frankreich, Anthropic in den USA. Hunderte Millionen von Euros oder Dollars fließen in die Unternehmungen und ihre ressourcenintensiven KI-Modelle. Auch in Österreich gibt es eine wachsende Landschaft, „270 Unternehmen setzen KI produktiv ein“, sagt Patrick Ratheiser, Chef von Leftshift One. Das Start-up zählt in Sachen KI zur heimischen Speerspitze, die Nachfrage nach KI-Wissen sei seit ChatGPT explodiert. Ratheiser: „Ich bin sehr froh über ChatGPT. Jetzt hat jeder CEO verstanden, was KI ist.“ Speziell bei kleinen und mittleren Betrieben würde hierzulande aber das Interesse an KI-Projekten den Umsetzungswillen noch weit überwiegen, erzählt der KI-Pionier.
Richtet man den Blick wieder auf die globale Ebene, lässt sich zunehmend ein Richtungsstreit zweier Denkschulen beobachten. Auf der einen Seite stehen jene, darunter etwa Jetzt-wieder-OpenAI-Chef Sam Altman, die dafür eintreten, KI-Entwicklung voranzutreiben, sie öffentlich zu machen und die Technologie so zu testen und zu perfektionieren.
Auf der anderen Seite findet man, meist wissenschaftliche, Kräfte, die sich für eine intensive Prüfung im Labor aussprechen. Vor allem, wenn es um generative KI geht, also um jene Anwendungen, die selbst Texte, Bilder oder Videos erzeugen. „Wir haben keine Mittel, um eine potenziell superintelligente KI zu steuern oder zu kontrollieren. Der Mensch wird nicht in der Lage sein, KI-Systeme, die viel intelligenter sind als wir, zuverlässig zu überwachen“, schrieb etwa OpenAI-Chefentwickler Ilya Sutskever im Sommer.
AI Act: Entscheidende Tage
Der gebürtige Russe führt uns damit zum letzten Themenblock, der durch ChatGPT die Neuerfindung proben muss: zu „AI Governance“, also zur Regulierung und Steuerung von KI. Hierbei galt die EU lange als Taktgeber. Seit 2018 wird kollektiv an einem umfassenden Rechtsrahmen gearbeitet, im April 2021 kommt es zum ersten Entwurf des „AI Act“. Doch dann tritt ChatGPT auf den Plan und stellt alles auf den Kopf.
Heute tobt auch an dieser Stelle ein Richtungsstreit. Mächtige Staaten wie Deutschland, Italien oder Frankreich wollen, dass „Foundation models“, also jene KI-Basismodelle, die beispielsweise hinter ChatGPT stecken, nicht reguliert werden. Sie fürchten, dadurch eigene Entwicklungen im Keim zu ersticken. Das Europaparlament aber fordert auch für die Basismodelle strenge Regeln. Am 6. Dezember kommt es zur nächsten Verhandlung. Die wohl entscheidend ist. Denn: Die Uhr tickt, im Juni 2024 finden die Europa-Wahlen statt. Diese werden eine Zeit des Stillstands mit sich bringen. Ein Zustand, den KI nicht kennt.