Nach zehn Leitzinserhöhungen in Folge – auf mittlerweile 4,5 Prozent – dürfte die Europäischen Zentralbank (EZB) am kommenden Donnerstag bei ihrer Ratssitzung in Athen auf die Pause-Taste drücken. Vor dem Hintergrund einer zuletzt gesunken Inflationsrate in der Eurozone, der immer heftigeren Konjunktureintrübungen und dem eskalierenden Nahostkonflikt gehen Volkswirte davon aus, dass es diesmal zu keiner weiteren Anhebung kommt. In der jüngsten Umfrage der Nachrichtenagentur Reuters rechnete keiner der befragten 85 Ökonomen mit einer weiteren Zinsanhebung bis Ende 2023. Der Zinsgipfel dürfte damit vorerst erreicht sein.

Im September war die Inflation im Euroraum auf 4,3 Prozent zurückgegangen, nach 5,2 Prozent im August. Noch im Herbst 2022 hatte der Preisauftrieb bei mehr als 10 Prozent gelegen. EZB-Präsidentin Christine Lagarde (Bild) wertete den Rückgang zuletzt als „gute Nachricht“. Doch die Inflation liegt immer noch mehr als doppelt so hoch wie das EZB-Ziel von 2 Prozent.

„Die EZB dürfte auf Basis des jüngsten Inflationsrückgangs in der Eurozone keine weitere Leitzinsanhebung mehr beschließen“, meint etwa Robert Greil, Chefstratege des deutschen Bankhauses Merck Finck. „Wir rechnen mit einer mehrmonatigen Zinspause der EZB, bevor in etwa Mitte nächsten Jahres eine erste Leitzinssenkung wahrscheinlich erscheint“, so Greil. 

Für die Chefvolkswirtin der staatlichen deutschen Förderbank KfW, Fritzi Köhler-Geib, ist das Zinsniveau inzwischen ausreichend restriktiv – das heißt konjunkturbremsend –, um eine Rückkehr zur Preisstabilität zu ermöglichen. Die EZB strebt mittelfristig 2 Prozent Inflation als Idealwert für die Wirtschaft an. „Aufwärtsrisiken für die Inflation bestehen jedoch fort und sind durch die schrecklichen Ereignisse im Nahen Osten gestiegen“, meint die Ökonomin. Merck-Finck-Experte Greil hat die Energiepreise im Blick. „Die EZB dürfte angesichts der zunehmenden Unsicherheit gerade in Sachen Energiepreise infolge des Nahostkonflikts die Bedeutung der eingehenden Daten, die zunehmend für eine Rezession sprechen, betonen“, erklärte er.

Wann laufen die Anleihenkäufe aus?

ING-Chefvolkswirt Carsten Brzeski rechnet mit einer weiteren Eintrübung der Konjunktur bis zur Dezembersitzung der EZB, was aus seiner Sicht gegen eine erneute Zinsanhebung spricht. Doch für ihn ist die Möglichkeit einer Erhöhung nicht ganz vom Tisch. „Angesichts des jüngsten Ölpreisanstiegs und folglich einer Aufwärtskorrektur des Inflationspfads in der Eurozone für 2024 können wir allerdings nicht völlig ausschließen, dass die EZB sich im Dezember noch für eine weitere Zinserhöhung entscheiden wird“, meint der Experte.

Die Volkswirte der US-Bank Morgan Stanley gehen davon aus, dass die Eurohüter Zinsschritte bis auf Weiteres nur noch auf solchen Sitzungen ins Auge fassen, auf denen die EZB-Volkswirte neue Konjunkturprojektionen vorlegen. Das ist das nächste Mal im Dezember und dann erst wieder im März 2024 der Fall. Die Zentralbank könnte aber aus ihrer Sicht auf der Sitzung am Donnerstag über einen vorzeitigen Stopp der Anleihenkäufe in ihrem Pandemie-Anleihenkaufprogramm PEPP beraten. „Da dies die erste offizielle Diskussion über das PEPP ist und das Thema kompliziert ist, erwarten wir keine Entscheidung im Oktober“, schreiben die Ökonomen in ihrer EZB-Vorschau.

Mit dem Kaufprogramm PEPP wollten die Währungshüter die Finanzierungsbedingungen für Staaten, Unternehmen und Haushalte während der Coronapandemie günstig halten. Doch diese ist inzwischen abgeklungen. Auslaufende Anleihen aus dem Programm werden jedoch immer noch vollumfänglich ersetzt. Bisher sollen diese PEPP-Reinvestitionen bis mindestens Ende 2024 fortgesetzt werden. Doch die Morgan-Stanley-Experten halten es für möglich, dass die EZB bereits im ersten Quartal 2024 damit beginnt, die Käufe langsam ausklingen zu lassen.

Auch Mindestreserve könnte bald Thema werden

Nach Einschätzung von Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer rückt bei der EZB auch das Thema Mindestreserven, die Geschäftsbanken auf einem Konto bei ihrer nationalen Notenbank halten müssen, in den Blickpunkt. „Auf Sicht der kommenden Monate können wir uns vorstellen, dass die Notenbanker den Mindestreservesatz von 1 Prozent auf 2 Prozent anheben werden, um weniger Zinsen an die Geschäftsbanken zahlen zu müssen“, meint Krämer. Aktuell liegt die Mindestreserveanforderung bei 1 Prozent der Kundeneinlagen eines Geldhauses. Insidern zufolge planen Währungshüter zufolge im kommenden Frühjahr einen erneuten Vorstoß, um die Zinszahlungen an Geschäftsbanken zu senken.