Am 25. Juni 2020 kippt das Schiff. Turbulent verlaufen für den damaligen deutschen Vorzeigekonzern Wirecard aber schon die Tage und Wochen davor.

Mehrfach wird die Vorlage der Jahresbilanz 2019 verschoben, die Aktie rasselt in den Keller. Schließlich muss Wirecard einräumen, dass sich in der Bilanz eine Lücke von 1,9 Milliarden Euro auftut. Geld, angeblich auf Treuhandkonten verbucht, das nicht auffindbar ist. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY verweigert fortan das Testat für die 2019er-Bilanz, am 25. Juni schließlich gibt es für Wirecard keinen anderen Ausweg mehr: Das Unternehmen meldet offiziell Zahlungsunfähigkeit an. Schon eine Woche zuvor, am 19. Juni, tritt Wirecard-Boss Markus Braun zurück. Auf ihn folgt Compliance-Vorstand James Freis als Kurzzeit-CEO.

Kurz darauf twittert Braun noch einmal über das Unternehmen: "Wirecard hat exzellente Mitarbeiter, ein starkes Geschäftsmodell, eine herausstechende Technologie und reichlich Ressourcen für eine großartige Zukunft." Eine Woche später ist die Aktie keine zwei Euro mehr wert.

Wirecard-Zentrale bei Aschheim bei München
Wirecard-Zentrale bei Aschheim bei München © stock.adobe.com

Heute blickt man auf viel verbrannte Erde. Ein knappes Jahr nach der Insolvenz rückt die erste Anklage näher. Die Münchner Staatsanwaltschaft geht von "bandenmäßigem Betrug" aus, bei dem kreditgebende Banken und Investoren um über drei Milliarden Euro geprellt worden sein sollen. Demnach soll die Wirecard-Chefetage spätestens 2015 begonnen haben, die Bilanzen mit Scheinumsätzen zu fälschen, um sich immer größere Summen zu beschaffen. Geschäfte mit Drittpartnern in Asien seien erfunden worden, um das Unternehmen erfolgreicher aussehen zu lassen. 

FT beschrieb schon 2015 das "House of Wirecard"

Dabei hatte der rasant wachsende Zahlungsdienstleister Wirecard in den Jahren davor immer wieder große Fragen aufgeworfen. Die Zeitung Financial Times etwa hatte sich in ihrem Blog "FT Alphaville" schon ab April 2015 in einer mehrteiligen Artikelserie ("House of Wirecard") sehr kritisch mit den Bilanzen der Wirecard AG auseinandergesetzt und diesbezüglich auf Unstimmigkeiten hingewiesen. Wirklich gehört wurden die Einwürfe lange nicht.

Im Gegenteil: Viele, in Deutschland aber auch quer durch Europa, waren stolz auf Wirecard. Immerhin sprach man von einem europäischen Konzern, der es mit innovativer Technologie schaffte, in der digitalen Welt zu punkten. Eigentlich eine Domäne von Konzernen aus den USA oder dem asiatischen Raum. Fußte die Relevanz von Wirecard zunächst auf Kunden in der Glücksspiel- oder Pornoindustrie, kamen später auch renommierte Großkonzerne wie die ÖBB an Bord.

Anklage in der zweiten Jahreshälfte erwartet

Bei ihren Ermittlungen will sich die Staatsanwaltschaft München jetzt  offensichtlich auf Teile der Vorwürfe konzentrieren, um bei Ex-Chef Braun, einem Österreicher, schneller zum Abschluss und damit zur erwarteten Anklage zu kommen.

Einen konkreten Termin nennen die Ermittler nicht, doch wird seit Wochen über eine Anklage in der zweiten Jahreshälfte spekuliert. Alle Aspekte des Tatkomplexes Wirecard zu ermitteln, wäre "eher eine Frage von Jahren als von Monaten", erklärte eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft jüngst. So lange dürfe man in einem Rechtsstaat niemanden in vorläufiger Untersuchungshaft behalten.

Markus Braun und zwei andere Manager sitzen seit Sommer 2020 ununterbrochen hinter Gittern. Der ehemalige und für das implodierte Asien-Geschäft zuständige Wirecard-Finanzvorstand Jan Marsalek, ebenfalls Österreicher, befindet sich auf der Flucht und ist untergetaucht. Am 30. Juni 2020 meldet er sich zum letzten Mal bei einem engen Vertrauten. Auf dessen Frage "Bist du abgetaucht?" antwortet Marsalek: "Sort of". Eine Woche später zerschlägt sich die letzte Spur. Der philippinische Justizminister Menardo Guevara lässt wissen, dass die Einträge der Einwanderungsbehörde zu Marsaleks angeblicher Einreise auf den Philippinen kurz zuvor gefälscht seien. 

Der langjährige Wirecard-Lenker Markus Braun
Der langjährige Wirecard-Lenker Markus Braun © AP