„Ich hatte überhaupt keine realen Kontakte mehr, also im echten Leben. Ich hab 16 Stunden gezockt, volle Kanne. Und das über acht Jahre lang.“ Wir treffen Ali (38) und er wirkt wie ein ganz normaler, netter Typ. Kurze Haare, charmantes Lächeln, redegewandt und glücklich. Doch Ali war ganz unten. Seine Computerspielsucht baute sich zwar langsam auf, doch schon sehr früh entdeckte er den Zauber in seinem PC. „Als sich meine Eltern scheiden haben lassen, war ich 10 Jahre alt und es war keine schöne Scheidung. Ich blieb hier auf der Strecke und beim Zocken konnte ich das alles vergessen. Dort war ich gut, das hat mir getaugt“, erinnert sich Ali.
Soziale Unischerheit, Müdigkeit, schlechte Noten
Genau solche Momente sind bei vielen Kindern und Jugendlichen die Auslöser, die vom netten Zeitvertreib in eine Sucht führen können. „Oft sind es Probleme mit den Eltern, einfach Probleme in der realen Welt, die hier vergessen werden können“, sagt Jasmin Müller-Rachoi. Sie ist klinische Gesundheitspsychologin in der Spielsuchtambulanz de La Tour in Spittal an der Drau. Und vertraut mit genau diesen Mechanismen. „Es kommt dann oft zu einer Vernachlässigung der schulischen Pflichten oder später dann auch dazu, dass diese Menschen keinen Job finden können oder immer wieder abbrechen. Eltern merken verstärkte Tagesmüdigkeit und eine immer stärker werdende soziale Unsicherheit.“
Ali erlebte alles. Erst wurden die Noten am Gymnasium schlechter, dann wiederholte er, schließlich ging sich die Matura nicht mehr aus. Er begann seinen Zivildienst beim Roten Kreuz, doch „ich ging nicht mehr hin, sondern zockte den ganzen Tag.“ Erst als er von seiner Vermieterin rausgeworfen wird und wieder bei seiner Mutter einziehen muss, sieht er sein Leben am Tiefpunkt. „Ich war 21 Jahre alt und bin in ein tiefes, tiefes Loch gefallen, doch ich hab dem Gaming trotzdem nie die Schuld gegeben daran, sondern hab eher die Verantwortung bei meinem Vater zugeordnet“, erinnert sich Ali, der heute übrigens die Matura nachgeholt, sich selbstständig gemacht hat und mit all dem erfolgreich geworden ist.
Doch wie konnte er überhaupt aus dem Ganzen herausfinden, wenn er doch so viel Spaß mit all den Spielen hatte und seine Sucht nicht als Problem erkannte? Das dauerte, denn auch nach seinem Wiedereinzug bei seiner Mutter, spielte er weiter. „Ich wohnte dann bei Opa und Oma und half mit, wenn die Oma was brauchte. Dann läutete der Opa mit einer Glocke und ich kam. Den ganzen Rest der Zeit hab ich einfach gespielt. Ich war in diesen Jahren wirklich frei von allen sozialen Kontakten.“ Beruflich klappte nichts, seine Mutter versuchte ihn zu überzeugen, eine Therapie zu starten oder doch zu einem Beruf zu finden, aber „das ist alles gescheitert.“
Eines Tages dann landete er doch in einer Suchtambulanz. Ohne viel Hoffnung zu haben, aber in der Gewissheit, dass er den ganzen Berg an Problemen, die er angesammelt hatte, nicht mehr selbst in den Griff bekommen würde. Ein wichtiger, wenn auch harter Schritt für Ali, denn das Einzige, das in seinem Leben zu funktionieren schien, musste er jetzt aufgeben: das Zocken. Zumal Ali ja sehr erfolgreich in den Spielen war, er war in dieser Welt von „World of Warcraft“ und „EVE Online“ ein Star. Ein Phänomen, das auch Hannes Rieger genau kennt. Er leitet die Suchtambulanz in Kärnten. „Das Gemeinschaftsgefühl ist vor allem bei den Multiplayer Spielen groß, hier hat man Community, man bewegt sich leicht. Daher haben wir auch meist eine erste Kontaktaufnahme von Angehörigen. Eltern, die sich Sorgen machen.“
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Wie sehr man sich von der realen Welt entfernen kann, machen die Erfahrungen von Ali sichtbar. Heute muss er in der Erzählung fast ausholen, um zu erklären, welcher Mensch damals in der Ambulanz gelandet ist, weil er eben so sicher und offen wirkt. „Ich hatte jahrelang wirklich eine körperliche Berührung mehr erlebt, ich konnte niemanden in die Augen sehen, das war damals für mich undenkbar.“
In der Klinik in Treffen werden ambulante und stationäre Behandlungen angeboten. Oft flankieren ambulante Einheiten einen längeren stationären Aufenthalt, auch um zu „stabilisieren“, wie Rieger unterstreicht. Gamingsucht ist seit 2018 eine von der Weltgesundheitsorganisation anerkannte Sucht, in Österreich sind etwa so viele Menschen gamingsüchtig, wie mit Essstörungen zu kämpfen haben. Rund 270.000 - oft junge - Menschen. Doch die Geschichte von Ali soll nicht abschrecken, sie soll zeigen, was in den Zimmern und in den Nächten von vielen Menschen los ist und dass es auch einen Weg heraus gibt. „Uns gibt es auch, weil wir natürlich Präventionsarbeit leisten, weil wir in die Schulen gehen und zeigen: Es gibt uns hier in Kärnten, zu uns kann man kommen“, will Hannes Rieger auch eine Einladung aussprechen.
Und noch eine gibt es. Das erste Retro Gaming-Museum Österreichs wird von einem Kärntner in Wien geführt und auch er kennt die Ambivalenz zwischen Faszination und Flucht. „Wir holen die Leute hier bei ihren Emotionen ab, die Erwachsenen in ihrer Kindheit, als alles noch nicht so schwer war. Aber es ist natürlich auch gefährlich, diese Flucht aus dem Alltag, denn wenn du dein Leben zu sehr abkoppelst, ist es schwer, wieder rauszukommen“, so Markus Krainer, Chef des Museums. Wie schwer es sein kann, zeigt Alis Geschichte. Und sie zeigt auch, dass es trotzdem gelingen kann das echte Leben zu meistern.