"Es war mein Glaubenssatz“, sagt Irmgard Eichberger, „die stille Vereinbarung, dass ich meine Mutter bis zuletzt begleiten kann.“ Aber die Mutter, Johanna, lebte im Pflegeheim. Und in Corona-Zeiten herrscht Besuchsverbot. Johanna stirbt, ohne Familie. Die Tochter schreibt die Geschichte ihres leisen Sterbens auf. Sie beginnt vor fünf Jahren.

15. Jänner 2015.Der Tod meines Vaters änderte im Familiengefüge alles. Dreieinhalb Jahre wurde meine Mutter zu Hause von 24-Stunden-Pflegekräften mit Unterstützung ihrer drei Töchter umsorgt, aktiviert, motiviert. Sie war Lebensmittelpunkt und Wurzelstock zugleich.

60 Jahre war sie verheiratet gewesen, der Tod ihres Mannes traf Johanna schwer. „Da ist in ihr etwas nicht mehr ganz geworden“, sagt die Tochter. Johanna erkrankte an Demenz.

20. Mai 2019.Ich fühle heute noch diese enorme Anspannung, als ich meine Mutter ins Pflegeheim bringen musste. Wir konnten sie, trotz Krankenzimmer in ihrer Wohnung, nicht mehr optimal versorgen. Die Eingewöhnungsphase war sehr schwierig. Um meine Mutter und die Pflegekräfte in der Zeit möglichst gut zu unterstützen, machten wir es uns zum täglichen Ritual, sie zu betreuen. Nach einigen Monaten wurde es leichter. Trotzdem wiederholte sie sehr oft nach jedem Spaziergang im Rollstuhl den Satz: „Jetzt gemma nach Hause."

Jeden Tag bekam Johanna Besuch von einer ihrer Töchter. „Wir haben sie selbst gewaschen, gepflegt, gefüttert, ins Bett gebracht“, sagt Eichberger, die dadurch die Leistungen des Pflegepersonals so richtig wertzuschätzen lernte.

8. März 2020.Der Geburtstag unserer Mutter. Schön war dieser Tag, feierlich, besonders. Immer wieder rührte es mich zu Tränen, der musikalische Rahmen, die Menschen dort so fröhlich, wenn auch noch so gebrechlich. Eine kleine andere Welt, in der schon so vieles losgelassen werden musste. Wie sehr mich meine Mutter in ihrer Gebrechlichkeit und ihrem unermüdlichen Kampf um ihr Erinnerungsvermögen berührte, und auch der sich aufdrängende Gedanke, dass sich ihre Lebensflamme zusehends verkleinert, erzeugte gewisse Schwermut. Darüber hinaus hatte jeder Abschied nach der Betreuung den Hauch von etwas Endgültigem.

Die täglichen Besuche ihrer Töchter schenkten Johannas Leben im Heim Sinn. „Gestrahlt hat sie immer – ,die Irmi, meine Tochter kommt!‘. Wir haben immer einige Stunden verbracht. Und dann war das vorbei“, schildert Eichberger.

12. März 2020.Der Zutritt zum Pflegeheim wurde geschlossen. Die Verantwortung gegenüber den Bewohnern und den Pflegekräften war enorm angesichts der Corona-Pandemie. Der Zustand meiner Mutter verschlechterte sich durch den Entzug unserer Besuche zusehends. Das Einzige, was ihr Halt, Orientierung und Geborgenheit geben konnte, die Nähe zu ihren Töchtern, war plötzlich nicht mehr da. Die Erzählungen aus ihrem Leben, unsere, ihr vertrauten Stimmen, das Streicheln, Lieder, die sie so gerne gesungen hat. Für unsere Mutter war das schlagartig verloren und sie konnte das nicht einordnen, noch weniger verstehen. Sie baute rapid ab.

Verzweifelt suchte Eichberger einen Weg, ihrer Mutter nahe zu sein; kontaktierte Ärzte, die Ombudsstelle, das Gesundheitsministerium. „Es gab keinen Tag, wo ich nicht gekämpft habe, keine neuen Ideen hatte. Habe ich etwas übersehen? Soll ich meine Mutter aus dem Heim rausnehmen?“, schildert Eichberger. „Das wird meine Mutter nicht überleben“, dachte sie. Und fühlte sich ohnmächtig, war sie doch zugleich von der Sinnhaftigkeit der Schutzmaßnahmen überzeugt.

6. April 2020.Meine zwei Schwestern und ich bekamen die Möglichkeit, uns von unserer Mutter zu verabschieden (Schutzvorkehrungen wurden getroffen). Es waren Wochen vergangen, seit wir das letzte Mal Kontakt mit ihr hatten. Sie war bereits in einem sehr fortgeschrittenen Sterbeprozess. Das Gefühl, ihr nun nahe sein zu dürfen, in zärtlichen und leisen Worten mit ihr zu sprechen, ein Gebet, ein Danke, sie nun in die Hände Gottes zu übergeben, war unbeschreiblich. Aber alles auch kaum erfassbar, was geschah. Wir konnten erleben, wie wichtig das Abschiednehmen war; wir sind überzeugt, dass sie uns wahrgenommen hat.

Eine Stunde durfte dieser letzte Besuch dauern.

7. April 2020.Nach dem Anruf von der Heimleitung machte ich mich sofort auf den Weg und verständigte noch meine Geschwister. Es waren in etwa 15 Minuten, bis ich vor dem Eingang stand und eine Diplomschwester mir ihr Beileid aussprach, da meine Mutter vor wenigen Minuten verstorben sei. Sie lag in ihrem Bett mit den Palmkätzchen in Händen, meine Schwester hatte sie am Tag zuvor mitgebracht. Die Welt stand für mich still in diesem Augenblick. Es ist der Augenblick des Unwiederbringlichen, des Endgültigen. Es scheint so, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, wo Grenzen dünn, durchscheinend werden, Menschen sich plötzlich wie Engel verhalten und auf ihre Weise kraftvoll wirken. Ein tiefes Band der Liebe hält uns mit unserer Mutter zusammen. Johanna, sie war eine gütige und liebevolle Mutter, ein wunderbarer Mensch mit einem riesengroßen Herz. Viele Menschen in dieser Zeit erleben Ähnliches. Das spezifische Hinschauen, Wahrhaftigkeit in der Kommunikation, Mut im Finden von Möglichkeiten, in Fällen, wo herkömmliche Alternativen nicht mehr greifen, sind vertrauensbildend und würdevoll. Niemand sollte sich allein gelassen fühlen und so wertvoll tröstende Worte sind, es braucht in bestimmten Situationen mehr: konkrete Lösungen im Sinne der Humanität.