Behutsam blättert Maria Fink in einem Fotoalbum. Seite um Seite, Erinnerung um Erinnerung. Unzählige schöne sind darunter, unfassbar traurige ebenso. Keine Träne läuft über ihr Gesicht, als sie davon erzählt, wie sie ihre Schwiegereltern jahrzehntelang gepflegt hat, wie sie die Diagnose ihrer Tochter bekommen haben, wie ihr Schwiegersohn bei einem Unfall gestorben ist.
Als wären keine Tränen mehr übrig. "Uns wurde gesagt, dass unsere fünfjährige Tochter nur zehn Jahre alt wird. Mein Mann und ich, wir haben nur geweint und gedacht, die Welt geht unter." Heute ist Sandra Fink 37 Jahre alt, ein Leben, wie es andere in ihrem Alter führen, hat sie nicht. "Manchmal denke ich mir schon, was aus ihr geworden wäre", erzählt Maria Fink. Der Nachbar sei gleich alt, habe eine Familie. Sandra sei wie eine Neugeborene, ist geistig und körperlich schwer behindert, muss ständig betreut werden.
Mit Schreikrämpfen und Fieber habe alles begonnen, erinnert sich Maria Fink. Dann habe ihre Tochter auf einmal nichts mehr gegessen und getrunken. Sandra war 18 Monate alt und bis dahin gesund, als ihre Eltern mit ihr verschiedene Ärzte aufsuchen. Viele Krankheiten werden vermutet, eine trifft nach mehreren Jahren voller Untersuchungen und Therapien zu: unheilbares Rett-Syndrom, eine seltene, tiefgreifende Entwicklungsstörung des Gehirns.
"Früher konnte sie noch gehen, Mama und Auto sagen", erzählt Maria Fink, die mit ihrem Mann Franz vier Töchter hat und in Neustift bei Sebersdorf lebt. Seit ihrem elften Lebensjahr sitzt ihre zweitälteste Tochter Sandra im Rollstuhl, kann nicht reden, schläft im Pflegebett, angegrenzt an das Schlafzimmer der Eltern. Nur geteilt durch eine Trennwand und einen Vorhang. "Damit ich jedes Geräusch höre."
An ihrer Gestik und Mimik liest ihre Mutter Gefühle und Sorgen ab. Wie an diesem Tag, als die 37-Jährige von der Tageswerkstätte der Lebenshilfe, wo sie von Montag bis Freitag tagsüber ist, heimgebracht wird. "Oje, was war heute? Hat dir das Essen nicht geschmeckt?" Eine Antwort bekommt sie nicht. "Das Schönste ist ein Lächeln von ihr. Wenn sie lächelt, geht es der Mama und allen anderen gut."
Maria Fink ist es aber nicht immer gut gegangen. "Eine Mama, eine pflegende Angehörige, muss funktionieren, egal ob es ihr gut geht oder nicht." Pflegearbeit ist zeitraubend, kräftezehrend, nervenaufreibend. Man müsse jederzeit da sein und wenn man es nicht ist, jemanden organisieren, der es ist. Auf vieles werde verzichtet. "Als wir 30 Jahre verheiratet waren, waren mein Mann und ich zum ersten Mal Urlaub", erzählt die 60-Jährige, die nicht nur seit 35 Jahren ihre Tochter pflegt, sondern auch jahrzehntelang zeitgleich ihre Schwiegereltern bis zu deren Tod betreut hat.
Mit 20 Jahren ist Maria Fink zu ihrem Mann, zu seinen Eltern und zur Landwirtschaft gezogen. "Meine Schwiegermutter habe ich gesund gar nicht gekannt", sagt Fink. Sie litt bis zu ihrem Tod 2016 an starkem Rheuma, benötigte Hilfe, war zeitweise auf einen Rollstuhl angewiesen. Nach einem Schlaganfall 1998 saß auch ihr Schwiegervater mit halbseitiger Lähmung bis zu seinem Tod 2006 im Rollstuhl. Eine Pflegekraft zu holen, sei nie Thema gewesen.
Sie habe gewusst, dass ihre Schwiegermutter dankbar gewesen sei, gesagt habe diese es aber nie. "Es hätte mir aber vielleicht einmal gutgetan, ein Danke zu hören", so Fink. Dieses bekam sie von ihrem Mann, der ihr Halt gibt. "Als sie gestorben sind, hat er zu mir gesagt, du musstest bis jetzt für meine Eltern da sein, jetzt kannst du dein Leben leben." Es wurde leichter, Maria Fink aktiver. Sie ist bei den Bezirksbäuerinnen dabei und im Gemeinderat.
Ohne Hilfe von anderen, etwa von ihrer Schwester, aber auch von ihren drei Töchtern, die sich ebenso liebevoll um Sandra kümmern, gehe vieles nicht, dafür sei sie sehr dankbar. Unterstützung bedeute Zeit für sich und für ihren Mann. Warum Maria Fink ihre Geschichte erzählt? Weil es wichtig sei. "Es gibt so viele Menschen, die Großartiges leisten. Warum nicht auch jene vor den Vorhang holen, die Angehörige pflegen und damit Großartiges leisten. Wir sind nicht die einzigen, denen es so geht."