Nein, es ist nichts Alltägliches: Dass die Formel 1 ihre 8,1 Millionen Follower kurz vor Beginn des "Großen Preis von Österreich" über sexuelle Belästigungen von Frauen rund um die Rennstrecke informiert, hat in Spielberg für großes Erstaunen gesorgt. Schnell hat sich gezeigt, dass die Welle der Empörung aber zwei Ebenen hat – eine österreichische, und eine internationale. Bei den einheimischen Besuchern, beim Veranstalter, ja sogar bei den Einsatzkräften brach sogleich eine heftige Diskussion aus. Tenor: Ja, was war denn jetzt? Für so eine öffentliche Aufregung müsse es doch einen Grund geben. Dass sich ein paar wenige Frauen über verbale Belästigung beschweren, könne nicht der Auslöser sein. Gab es eine Vergewaltigung? Nein, sagt die Polizei. Aber sonst? Die Vorwürfe ließen viele ratlos zurück.
Begrapscht, bedrängt – nicht mehr?
Das spiegelt sich auch in den bilanzierenden Presseaussendungen von Veranstalter und Einsatzstab, wo das Thema kein einziges Mal aufgegriffen wurde. Wenn man sich die Tweets, die den Stein ins Rollen gebracht haben, durchliest, wenn man mit den Formel-1-
Verantwortlichen spricht, zeigt sich eines: Was in Spielberg passiert ist, ist kein Skandal – für österreichische Verhältnisse. Frauen wurden auf den Campingplätzen begrapscht, verbal belästigt, bedrängt. Nicht mehr? Nein, nicht mehr. Aber mehr als genug.
Schon ein einziger Vorfall dürfe nicht toleriert werden, entschied die Formel 1. Geschlossen treten seither Fahrer und Teams gegen Belästigung auf. Aus vereinzelten Nachrichten wurde eine Welle an Beschwerden, die neben Belästigungen auch rassistische und homophobe Beleidigungen anprangern. Die Forderungen nach Konsequenzen werden lauter. Und je lauter sie werden, desto auffälliger wird das Schweigen aus Österreich über einen Skandal, den viele noch immer vergeblich suchen. Genau das sollte uns zu denken geben: Während die Motorsportwelt nach Lösungen sucht, wie Frauen geschützt werden können, erkennen hierzulande viele noch nicht einmal das Problem. Weil es Alltag ist.
Der eigentliche Skandal
Ob Zeltfest, Konzert oder Bar: Frauen sind zweideutigen Bemerkungen und eindeutig unangemessenem Verhalten ausgesetzt. Ein Klaps auf den Po, eine "zufällige" Berührung, ein ungewolltes Bussi, ein Grapscher hier, ein zweifelhaftes Kompliment da. "Man wird ja noch flirten dürfen" ist das Totschlagargument. Warum Frauen nicht zur Polizei gehen? Weil sie gelernt haben, es "nicht so eng zu sehen". Und weil noch immer allzu oft die Schuld beim Opfer gesucht wird: Mit dem kurzen Kleid will sie sich aufregen?
Frauen prangern sexuelle Belästigungen offen an – und wir wundern uns über die Aufregung. Das ist der eigentliche Skandal. Statt darüber zu reden, wie genau sich die männlichen Fans (übrigens Österreicher wie Holländer) daneben benommen haben, sollten wir über etwas anderes diskutieren: Wo sexuelle Belästigung beginnt – und wie wir die Grenze so ziehen können, wie es 2022 längst überfällig wäre.