"Der Krieg kam unerwartet über Nacht. Es war 5 Uhr morgens. Ich habe gerade mein kleines Baby gestillt. Dann machte es ,Bam-Bam-Bam' - es waren Explosionen. Im Spiegel habe ich nur einen roten Himmel gesehen", teilt Susanna ihre Erinnerungen von den ersten Anschlägen auf Kiew. Der Alptraum hatte gerade erst begonnen, ein Erwachen gab es nicht. Mit ihrem drei Monate alten Baby im Arm floh sie in den Keller - ohne zu ahnen, dort die kommenden fünf Tage ausharren zu müssen.
Susanna wohnte mit ihrem Mann Yirii, Damir (3 Monate) und Arina (5 Jahre) in einer kleinen Ortschaft bei Kiew, gleich wie ihre Schwester Ruslana. Als der Krieg ausbrach, lag Ruslana mit ihren zwei Kindern Viktoria (11 Jahre) und Georgii (2 Jahre) sowie Mann Yirii noch unter Palmen am Strand im Oman. Ein Heimkommen gab es für sie nur nicht mehr, es herrschte bereits Krieg. Fröhliche Botschaften mit Urlaubsgrüßen erreichten nur mehr eine zerbombte Heimat.
Jetzt, zwei Wochen später, sitzen die beiden Familien gemeinsam an einem kleinen Tisch in Kammern. Vor ihnen ein Teller Kekse, in ihren Gesichtern Unsicherheit und Angst - unterbrochen von einem sich doch immer wieder abzeichnenden Lächeln.
"Er schützt gerade die Ukraine"
Ruslana ist mit ihrer Familie vom Urlaub im Oman über die Türkei nach Österreich gekommen, Susanna mit Kindern, Mann und Schwiegermutter mit dem Auto über Polen. So dankbar die neun auch sind, hier in Kammern in einem Haus Unterschlupf gefunden zu haben, so groß sind dennoch die Sorgen. Sorgen um Verwandte und Freunde.
Ganz besonders um Yiriis Bruder. "Er schützt als Soldat jetzt gerade die Ukraine", sagt Susanna. Als sie beginnt, über ihre Mutter und Großmutter zu sprechen, versucht sie gegen die Tränen anzukämpfen: "Oma ist 1941 geboren. Sie sagt: 'Aus meinem Haus gehe ich nicht mehr weg.' Aber es ist so gefährlich, ich mache mir sehr Sorgen."
Schwer zu begreifen sei die ganze Situation noch für die Kinder. Vor allem Arina sei sehr verängstigt, erzählt Mama Susanna: "Sie hat das Flugzeug am Himmel gesehen und gesagt: Mama, Mama. Es sind die Russen." Immer wieder kommt eines der Kinder aus dem Wohnzimmer nebenan in die kleine Küche gerannt, um Mama und Papa etwas zu zeigen oder, um sich einfach nur auf ihren Schoß zu setzen und sich geborgen zu fühlen.
"Töte nicht meine Heimat"
Yiriis Mutter sitzt mit ihrem Enkelsohn auf- und abwippend in einem Stuhl in der Ecke. Stolz erzählt die fünfjährige Arina währenddessen von einem Gedicht, das sie im Kindergarten gelernt hat - stellt sich kurzerhand in die Mitte des Raumes und fängt an. "Tötet nicht meine Heimat. Tötet nicht meine Sprache.... Die Ukraine hat viele Söhne...", übersetzt Dolmetscherin Nathalii Leitner aufgelöst kurze Passagen daraus.
Leitner ist selbst gebürtige Ukrainerin und lebt seit 13 Jahren in Kammern. Um Bürgermeister Karl Dobnigg zu unterstützen, hilft sie als Dolmetscherin, und begleitet Dobnigg fast jeden Tag. Schließlich leben knapp 40 aus der Ukraine geflüchtete Menschen in der Gemeinde Kammern, "und es ist noch Platz."
Dobniggs Telefon bimmelt fast im Minutentakt. Er ist gerade bemüht, eine Arbeitsstelle für die Erwachsenen zu finden und sagt: "Susannas Ehemann Yirii arbeitet hier schon seit ein paar Tagen beim benachbarten Bauern. Er war in der Ukraine selbst Farmer und hat 20 Hektar Felder beackert."
Susanna selbst ist, wie ihre Schwester Ruslana, Kardiologin, Ruslanas Mann Yirii Anästhesist. Die drei werden wahrscheinlich im Flüchtlings-Ankunftszentrum in Graz aushelfen. Ob sie wieder zurück in die Ukraine möchten? "Ja, jeden Tag. Ich hoffe, dass unsere Häuser noch stehen", sagt Susanna.