Der Start dieser Großbaustelle ist ruhig verlaufen: Montagfrüh lotsten Polizisten sicherheitshalber Autolenker an den Bauzäunen vor der Neutorgasse vorbei, zu kleinen Staus kam es vereinzelt am Nachmittag. Das befürchtete Verkehrschaos ist aber ausgeblieben.
Die Neutorgasse bleibt nun für den Autoverkehr gesperrt, solange die Stadt die Tram-Entlastungsstrecke für die Herrengasse errichtet. Vom Ring kommend bleibt die Straße bis Ende 2025 zu, vom Norden kommend ist sie nach der Fertigstellung der Tegetthoffbrücke Ende 2024 wieder mit dem Auto befahrbar. Die Frage, die sich nun stellt: Soll man die Straße für den Durchzugsverkehr überhaupt wieder öffnen, wenn sich Autofahrer einmal durch die ewig lange Baustelle an die Sperre gewöhnt haben? Ein Pro & Contra.
Pro von Karl-Heinz Posch: Nutzen wir die Chance zur neuen Prachtmeile
Binnen weniger Tage wird es bewiesen sein: Der Durchgangsverkehr durch die Stadt braucht keine Neutorgasse. Der Autoverkehr wird sich anpassen und andere Routen wählen. Fachleute wissen das. Es wurde hundertfach ausprobiert, mit immer dem gleichen Ergebnis – siehe Groningen, Gent, Leuven.
In den 1950er-Jahren wurden Neutorgasse, Belgiergasse, Murufer dem Autoverkehr geopfert. Damals glaubte man an die autogerechte Stadt. Heute weiß man es besser. Aber es ist extrem schwer, diesen verlorenen Platz zurückzugewinnen. Es wird verbissen um jede Autospur und jeden Parkplatz gekämpft. Nun liefert uns der Bau der Entlastungsstrecke die Flächen am Präsentierteller – man kann die Gleise halt sonst nicht bauen.
Diese einmalige Chance, die Innenstadt zu erweitern, muss genutzt werden. Neutorgasse, Andreas-Hofer-Platz, Tegetthoffbrücke, Belgiergasse, können zur neuen Prachtmeile werden. Die Murufer können zurückgewonnen werden und sich zu echten "Murpromenaden" entwickeln. Es ist auch eine große Chance für die angrenzende Kaiserfeld- und Kalchbergasse.
Aber es geht ja um den Durchgangsverkehr. Die derzeitige Planung sieht vor, dass dieser nach Fertigstellung der Tramstrecke genau wie vorher mitten durch die Stadt fließt. Das ist Verkehrsplanung aus den 50er- und 60er-Jahren – und die sollten wir endlich hinter uns lassen. Wir erstellen dazu ein neues, besseres Verkehrskonzept ohne Durchgangsverkehr, aber mit vielen, absolut notwendigen Zufahrten zu Parkplätzen, für Zulieferer, zu Parkgaragen. So wird die neue Innenstadt West gut für die Menschen, die Wirtschaft, den Tourismus … und last but not least … gut fürs Klima.
Karl-Heinz Posch, Leiter des Instituts für Verkehrspädagogik und Berater für Stadtentwicklung und Verkehrsplanung
Contra von Bernhard Bauer: Erreichbarkeit der Innenstadt ist die zentrale Säule
Es sei vorweg klargestellt: Wir sind sehr froh, dass nach jahrelangen Diskussionen diese Baustelle – trotz der damit verbundenen Herausforderungen für die Wirtschaft – endlich begonnen hat! Denn mit der Entlastungsstrecke wird die Erreichbarkeit der Innenstadt durch dann mögliche engere ÖV-Taktungen und größere Ausfallsicherheit ohne Zweifel attraktiver. Klargestellt werden muss aber auch, dass die Zielgruppe potenzieller Straßenbahnnutzer damit nicht größer wird. Dafür müsste das Straßenbahnnetz außerhalb der Innenstadt erweitert werden. Dafür gibt es zwar viele Pläne, Umsetzungen zumindest in den nächsten fünf Jahren erscheinen aber unrealistisch.
So spannend daher eine neue Flaniermeile in der Neutorgasse auf den ersten Blick klingen mag: Sie nutzt nichts, wenn auf dessen Kosten die Erreichbarkeit des Zentrums eingeschränkt wird. Wir müssen hier also – auch wenn wir uns alle weniger Autos in der Stadt wünschen – auf die Bedürfnisse der Unternehmerinnen und Unternehmer hören, die genau wissen, was für ihre Kunden und Mitarbeiter wichtig ist: Sehr viele der konsumierenden Innenstadtbesucher kommen nach wie vor mit dem Auto.
Um nicht zu riskieren, dass wir die Innenstadt "zu Tode beruhigen" ist daher eine Diskussion über eine autofreie Neutorgasse derzeit nicht zielführend! Das soll nicht heißen, dass es nicht einmal so weit sein kann – aber erst, wenn neue, attraktive Möglichkeiten der Erreichbarkeit umgesetzt werden.
Aktuell sollten wir daher darüber nachdenken, Maßnahmen während der Baustellenzeit zu setzen (etwa Parkaktionen in Tiefgaragen), um auch während der Bauarbeiten ein komfortables Erreichen der Innenstadt zu ermöglichen.
Bernhard Bauer, Leiter der Regionalstelle Graz der Wirtschaftskammer