"Es ist nicht deine Entscheidung, wo ich sitzen will", ruft Rudi empört. Gerade hat ihn Trafikant Rudolf Größ gefragt, warum er mit anderen eigentlich ausgerechnet immer in der Hans-Sachs-Gasse sitzt. "Es gibt ja viel öffentlichen Raum", so Größ. "Aber dort ist die Bettelmafia", winkt Rudi ab.
Rudi steht mit anderen, die ihre Tage in der Hans-Sachs-Gasse verbringen, stellvertretend dafür, was die ÖVP jüngst als "Verlotterung der Innenstadt" bezeichnet hat: eine Gruppe von Obdachlosen und Punks, die oft schnorrend und trinkend auf der Straße sitzen, manche mit Hund, manche ohne, oft laut. Und das alles sehr zum Ärger der Geschäftsleute in der Gasse.
Brennpunkt Hans-Sachs-Gasse: Eine Polit-Debatte mit pauschalen Zuschreibungen
Die politische Debatte mit solch pauschalen Zuschreibungen, die der ÖVP den Spott der Koalition eingebracht hat, schaukelt die Situation gerade zusätzlich auf. Jetzt hat die Stadtpfarrkirche rund um Stadtpfarrprobst Christian Leibnitz und Krista Mossböck eine bemerkenswerte Initiative gestartet: Sie hat Geschäftsleute und Obdachlose an einen Tisch im Pfarrsaal geholt, um über die Situation zu reden. Drei Geschäftsleute, fünf Obdachlose und Punks sowie zwei Sozialarbeiter der Stadt Graz sind gekommen.
"Jeder soll sagen, wie es ihm und ihr mit der Situation geht. Und wir hören einander zu", eröffnet Leibnitz den Abend. Schnell zeigt sich: Das mit dem Zuhören fällt einigen nicht leicht. Speziell Rudi, der seit 15 Jahren in der Gasse sitzt, kann den Drang, rasch zu unterbrechen, kaum unterdrücken. "Das ist ja eine Frechheit, was du sagst", herrscht er den Trafikanten an. Um sich gleich danach zu entschuldigen.
Das Problem aus Sicht der Unternehmer: zu viele, zu laut, zu schmutzig
Also, wie gehts den Unternehmern? Das Anbetteln von Passanten, die großen, nicht angeleinten Hunde und das Alkoholtrinken werden als die größten Probleme genannt. Dadurch sinke die Frequenz, die sie aber für ihr Geschäft brauchen. "Die Gasse liegt ja eigentlich in der Alkoholverbotszone", sagt Trafikant Größ. "Wenn ihr trinken wollt, dann macht das doch woanders."
"Es wird irgendwann einfach zu viel", sagt eine Vertreterin des Modegeschäfts Marco Polo. Wenn zwei Leute in der Gasse sitzen, sei es kein Problem. Wenn es zehn werden, die noch dazu teils schwer alkoholisiert sind, schon. Dann wird es auch schmutzig.
"Wie schaut es denn mit Toiletten aus", fragt sie in Richtung Sozialarbeiter, die stellvertretend für die Stadt hier sind. "Wir hatten es schon, dass jemand direkt vor unserem Auslagenfenster ...". Sie führt den Satz nicht zu Ende, aber jeder weiß, was gemeint ist. "Wir kennen das auch aus unserem Innenhof", sagt Stadtpfarrprobst Leibnitz. "Da wird immer wieder das kleine und auch das große Geschäft erledigt."
Als ein Unternehmer den Obdachlosen vorrechnet, wie viel Sozialförderung sie bekommen, eskaliert der Abend
"Das ist wirklich eine Sauerei", stimmt die Gruppe der Obdachlosen zu. "Wir machen so was aber nicht." Vielmehr wolle man ja eigentlich selber Ruhe haben. "Man sitzt zu zweit, will in Ruhe schnorren. Dann kommen Leute, die man nur rudimentär kennt. Aber da haben wir ja auch keine Handhabe, die wegzuschicken", sagt Rudi.
Als eine Unternehmerin mit den Steuern, die sie zu zahlen hat, argumentiert und ein zweiter der Gruppe von Obdachlosen vorrechnen will, dass sie eigentlich eh pro Person 14.000 Euro pro Jahr an Sozialleistungen bekommen, reicht es einigen. "Es geht bei uns tagaus tagein ums Überleben", schüttelt eine Frau mit bunten Dreads den Kopf. "Duschen ist ein Luxus. Aber sicher, ich weiß eh: Wir sind der Schandfleck der Straße und gehören weg", sagt sie zynisch. "Das hör ich mir nicht länger an", sagt ein anderer mit Irokesen-Frisur und packt seine Sachen.
Sozialarbeiterin Seiler: "Geht eine rauchen, kommt runter, aber kommt wieder"
"Und wie viel habt ihr vom Staat an Coronahilfen bekommen", ruft einer noch im Hinausgehen den Unternehmern zu. Der Abend eskaliert und droht zu scheitern: Vier der fünf aus der Gruppe der Obdachlosen gehen. "Geht eine rauchen, kommt runter, aber kommt wieder", bittet Eva Seiler, oberste Sozialarbeiterin der Stadt. Einer, nämlich Rudi, leistet der Bitte tatsächlich Folge. Er ist nach fünf Minuten wieder da.
Seiler und ihr Kollege von der offenen Sozialarbeit, Patrick Antal, sind es dann, die die Situation auf eine andere Ebene zu heben versuchen. "Wir reden da vom öffentlichen Raum, dort darf sich grundsätzlich jeder aufhalten." Sprich: Es ist keine Frage des Rechts, sondern vor allem eine der Emotion und von Zuschreibungen von außen.
"Wir ersetzen nicht die Polizei oder die Ordnungswache"
"Wir gehen da nicht mit der Idee rein, zu vertreiben oder zu pädagogisieren", erklärt Antal den Unternehmern den sozialarbeiterischen Zugang. "Sozialarbeit ist Beziehungsarbeit. Was wir leisten können, ist die Situation zu erklären, wenn wir vor Ort sind, zu deeskalieren. Aber wir ersetzen nicht die Polizei oder die Ordnungswache."
Das Fazit des Abends zieht Stadtpfarrprobst Leibnitz: "Ich bitte euch, den Platz einfach sauber zu halten", sagt er zu den zwei Verbliebenen aus der Gruppe. Und die Frage der Toiletten müsse gelöst werden, sagt er in Richtung Stadt.
Hat die Veranstaltung die beiden Gruppen, die sonst nur übereinander reden, nähergebracht? Vielleicht. "Ich versteh eh den Stress, den ihr habt", sagt Bernd, der ebenfalls schon lange auf der Straße sitzt. "Wir wollen dasitzen, ein bissel Geld einnehmen und fertig ist die Hetz'."