Es ist ein in dieser Art ungewöhnlicher Schritt, wenn ein ehemaliger und ein aktueller Stadtchef sich so zu Wort melden. Doch Siegfried Nagl (ÖVP) und sein Vorgänger im Amt, Alfred Stingl (SPÖ), stützen sich auf ihre Rolle als Bürgermeister der Unesco-Menschenrechtsstadt Graz, wenn sie mit ihrer "Grazer Erklärung" auf eine rasche und möglichst restriktive, gesetzliche Regelung des assistierten Suizids drängen.

Der Verfassungsgerichtshof hat ja Ende des Vorjahres den Paragraf 78 des Strafgesetzbuches, der die "Mitwirkung am Selbstmord" mit bis zu fünf Jahren Gefängnis unter Strafe stellt, aufgehoben. "Wir appellieren daher nun an den Gesetzgeber, eine mit den Menschenrechten und der Menschenwürde vereinbarende Neuregelung zu beschließen", sagt Nagl. Und Stingl sekundiert: "Wir dürfen doch nicht zu einer Einschläferungsgesellschaft werden!" Häuser, die Lebenshilfe leisten, dürften nicht zu Sterbehilfe-Häusern werden, vor denen die Menschen Angst haben müssen.

Rechtsanspruch auf Palliativ- und Hospizbetreuung

Nagl und Stingl, die sich in einer Expertenrunde beraten haben lassen, fordern, dass Ärzte, Krankenhäuser oder Apotheken nicht rechtlich zum assistierten Suizid verpflichtet werden dürften. Dass die Entscheidung allein von den Betroffenen und noch von ihnen selbst getroffen werden müsse. Zuvor brauche es eine verpflichtende unabhängige Beratung. Nagl abschließend: "Diese Forderung legen wir neu auf den Tisch: "Die Menschen in unserem Land sollen einen Rechtsanspruch auf Palliativ- und Hospizbetreuung haben."  

Gründe für den Wunsch zu sterben

Das Bürgermeister-Duo fürchtet sonst einen Dammbruch, dass alte Menschen unter Druck geraten könnten, sich für einen assistierten Suizid zu entscheiden. Laut einer niederländischen Studie hätten Menschen mit dem Wunsch zu sterben zu 56 Prozent "Einsamkeit", 42 Prozent die Sorge, zur Last zu fallen, und 36 finanzielle Belastungen als Begründung angegeben. In Ländern, in denen der assistierte Suizid ohne Rechtsfolge zugelassen sei, wären die Zahlen explodiert. Beispiel: In den Niederlanden sei die Zahl etwa von 1882 Fällen 2002 auf 6361 im Jahr 2019 "explodiert".

Die "Grazer Erklärung" wird am 16. September als Petition an den Bundesgesetzgeber in den Gemeinderat eingebracht, um Druck zu machen. Stingl zitiert die Bischofskonferenz: "Zum Leben gehört das Sterben, nicht das Töten!" Nagl ergänzt: "Wir wissen uns hier einer Meinung mit den Religionsgemeinschaften, Behindertenverbänden, der Ärztekammer und Psychologen und der Hospiz- und Palliativ-Institutionen - es ist eine Entscheidung über Leben und Tod."

Derzeit ist das Justizministerium am Zug, das einen Gesetzesentwurf vorlegen und mit den Nationalratsklubs verhandeln muss. Bis 1. Jänner 2022 muss ein neues Gesetz beschlossen sein.