Noch lange bevor ich sie erblickt habe, höre ich schon ihren Ruf. Tagtäglich nutzen wir sie, immerhin bringt sie uns verlässlich, mehr oder minder pünktlich, von A nach B, und wir glauben, sie zu kennen. Doch was geschieht mit ihr, wenn alle Passagiere ausgestiegen sind und sie und der Bimfahrer in romantischer Zweisamkeit zurückbleiben?
Ebendiese Romantik werde ich heute liebend gerne stören, denn ich begleite die Straßenbahn in ihr für viele unbekanntes Schicksal. Alles einsteigen, es geht los. Meine gemeinsame Nacht mit den Straßenbahnen der Graz Linien. Hoffentlich entdeckt uns der Bimfahrer nicht ...
Warum liegt hier kein Stroh?
Ihre Anfänge machten die Grazer Straßenbahnen 1878 noch in tierischer Begleitung, als Pferdeeisenbahn. Es verwundert wenig, dass heutzutage etwas mehr Pferdestärken von Nöten sein müssen, um jährlich rund 52 Millionen Fahrgäste zu transportieren. Noch in Gedanken versunken, wie viele Pferde wohl heute vorgespannt werden müssten und ob der Hauptplatz kurzerhand zu einem Ponyhof umfunktioniert werden würde (nun ja, eine Touristenmagnet wär's auf alle Fälle), werde ich jäh vom Bimfahrer aus meiner Vorstellung gerissen. Schade, ich hätte gerne noch länger der imaginären Pferde-Kolonne vom Haupt- bis zum Jakominiplatz zugesehen. Doch vermutlich will der Fahrer noch ein paar intime Minuten mit seiner vom täglichen Verkehr erschöpften Bim verbringen.
Wie ein tonnenschwerer Bumerang kehren die Grazer Straßenbahnen ohne Umwege, wie denn auch, an den Punkt zurück, von dem sie frühmorgens in die Welt entlassen wurden. In den beiden Grazer Straßenbahnremisen Steyrergasse und Alte Poststraße finden sie ihre Nachtruhe. Doch kein Zubettgehen ohne vorherigem Waschen.
Außen hui, innen hui
Eine Fremdfirma mit zwei bis sechs Arbeitern haut nachts in den Remisen ordentlich auf den Putz. Immerhin gilt es, täglich bis zu 70 Fahrzeuge vom Müll, denn die dankbaren Passagiere tagtäglich hinterlassen, zu reinigen. „Die Reinigung passiert zwischen 19 und 2 Uhr“, verrät Alfred Schalk, der Leiter der Straßenbahn-Werkstätten. Hierbei haben die die Mitarbeiter der Firma „Putzengel“ rund 50 Minuten Zeit, um eine Straßenbahngarnitur zu reinigen.
Ein Hut, ein Stock, ein Damenunterrock
Bei mehreren Tausenden Menschen, die tagtäglich ein- und aussteigen und so ganz nebenbei Überbleibsel und Beweise ihrer Anwesenheit hinterlassen, verwundert es kaum, dass da auch Kuriositäten dabei sein können. Abgesehen von leeren Flaschen, Kleidungsstücken, Regenschirmen und den Tageszeitungen mit denen der Innenraum der Bim bereits zu Mittag nahezu vollständig austapeziert ist.
"Einmal fanden die Mitarbeiter der Putzfirma Damenunterwäsche. Dieses Passagier-Überbleibsel zählt ohne Zweifel zu den wohl skurrilsten und nebenbei auch seltsamsten Fundstücken. Wie das dort hinkam, ich weiß nicht, ob man sich da näher Gedanken darüber machen sollte und will", so Gerald Zaczek-Pichler, Konzernsprecher der Holding Graz.
Wenige Stunden später sind alle Straßenbahnen innen und außen wieder blitzeblank und bereit für die kommenden Menschenmassen und deren herzerwärmende Mitbringsel. Und während die Straßenbahnen in Ruhe trocknen mache ich mich aus dem Staub. Was der Bimfahrer wohl für eine Freude haben wird, wenn er am nächsten Tag seine Weggefährtin wiedersieht, die sich so unbeschreiblich schön für ihn herausgeputzt hat.
Michael Schäfl