Ich wollte noch einmal nach Venedig, um die Stadt abseits der Biennale kennenzulernen; Gheto Novo zum Beispiel, das jüdische Quartier im Sestiere Cannaregio, wo die Juden der Stadt einst in engen Wohnverhältnissen abgetrennt von der restlichen Bevölkerung lebten. Es war Hochwasser, es war Unwetter, und angesichts der Sturmböen, die die Touristen verscheuchten und die Gassen leerfegten, war der Regenschirm komplett zwecklos. Perfekte Bedingungen, sich den Höhepunkt der Serenissima vorzustellen: diese furchteinflößende Löwin, die über die adriatische Küste bis in die Peloponnes und auf Kreta herrschte; die See- und Handelsmacht, die Festungen errichtete, um die kretische Küste vor den sarazenischen Piraten zu schützen; die die Schiffe für die Kreuzzüge baute, ihre Stradiotti aus entlegenen Regionen rekrutierte, Konstantinopel eroberte. Ich überquerte eine kleine Brücke und traf unvermittelt auf eine Gruppe chassidischer Juden aus New York, genauer gesagt aus Williamsburg, Brooklyn, denn sie sind am Akzent unverkennbar, meine alten Nachbarn. Einst habe ich in deren Läden eingekauft, die Familienväter in ihren prächtigen pelzbedeckten Hüten, den Schtreimeln, beim Spazierengehen am Schabbatabend bewundert. Die Welt ist klein, aber was heißt das? Sie haben ihren mystischen religiösen Glauben und ihre Bräuche über Jahrhunderte hinübergerettet, lehnen den Krieg, den Militärdienst und den Staat Israel strikt ab. Was führte sie nach Venedig, so kurz vor dem furchtbaren Jahrestag am 7. Oktober?