Es hat sich herumgesprochen, dass sie ein „Safe Space“ ist: Es ziehen jedenfalls immer mehr zu mir auf die Terrasse hinter dem Cerrini Schlössl. In eine Flauschdecke gehüllt (denn hier oben ist es frühmorgens noch kühl) gehe ich raus, um die noch schlafenden Weinbergschnecken zu begrüßen. Noch vor zwei Wochen war es immer nur eine, die am Mauerwerk klebte und vor sich hindöste, und ich bildete mir ein, dass es immer dieselbe war, dass wir in aller Stille eine Art Freundschaft geschlossen hätten. Einige Tage später waren es drei, vier Schnecken; heute morgen waren es sieben. Sie wissen inzwischen, dass ich sie in Ruhe lasse, lediglich beobachte, gelegentlich fotografiere, was sich als etwas indiskret herausstellt, denn man muss an eine Schnecke sehr nah herantreten und etwas länger in der Hocke ausharren, um sie zu fotografieren. Sie spüren meine Anwesenheit, brauchen Zeit, bis sie ihr Schneckentun ungestört fortsetzen, schauen mich vielleicht hin und wieder mit ihren winzigen Augen an, die als dunkle Punkte an den Spitzen ihrer Fühler das ungefährliche Ungeheuer über ihnen nur verschwommen wahrnehmen.
Die Weinbergschnecken sind übrigens Zwitter, haben männliche und weibliche Geschlechtsteile, sie sind also als LGBTIQA+ zu bezeichnen: nicht nur nicht-binär und queer, sondern intersexuell. Zur Fortpflanzung kleben sie sich aneinander und injizieren einander mittels sieben bis elf Millimeter langen „Liebespfeilen“ (sie heißen tatsächlich so) das nötige Erbmaterial – ein Paarungsspiel, das umso erstaunlicher wirkt, weil sie es im Stehen ausüben, irgendwie triumphierend, regenbogenfarbenausstrahlend und quasi exhibitionistisch.
Gestern, in einem Interview für Kunstfunken, den Kunst- und Kulturpodcast des Landes Steiermark, hat mich Journalistin Lydia Bissmann zu meinem Verhältnis zum Gendern befragt. Es ist tatsächlich eine passende Frage, denn LektorInnen und ÜbersetzerInnen haben mich mehr als einmal darauf aufmerksam gemacht, dass ich das Gendersternchen, Binnen-I oder Doppelpunkt oft vergesse und somit das weibliche, also mein eigenes, Geschlecht außen vor lasse. Ich lasse mich immer korrigieren, denn meine Vergesslichkeit hat weniger mit Sexismus, Rollenverteilung oder Politik zu tun und vielmehr damit, dass es in meiner Muttersprache keine solchen Geschlechter gibt. In der englischen Sprache wäre es ein fremder Gedanke, dass ein Tisch z.B. männlich sein soll, eine Zeitung weiblich. Ein Buch wiederum sollen wir als ein Neutrum betrachten: Soll es mir wegen seines armen Schicksals leidtun? Gab es noch sprachliche Urzeiten, in dem das Buch maskulin war? Hat es mit den Jahrhunderten an erotischer Kraft verloren? Oder hält es sich ans Beispiel der Weinbergschnecke, die alle eindeutigen, für sie also äußerst langweiligen Kategorien mit einem Lächeln zurückweist?
Als junge Künstlerin in Berlin wies ich jedenfalls die feminine Form empört zurück: Ich habe in ihr Ausgrenzung gesehen, wollte mich nicht in die weibliche Schublade einsperren lassen – die Schublade des Abgestempeltseins und der Nichtbeachtung. Ich sei schließlich Künstler wie alle andere, entgegnete ich in meinem schlechten Deutsch, und hatte in meiner Weigerung nicht Unrecht. Denn die Trennung in feminin und maskulin setzt eine Weltsicht voraus, und tatsächlich ist Künstlerin oder Schriftstellerin zu sein unter Künstlern und Schriftstellern statt unter KünstlerInnen und SchriftstellerInnen immer noch etwas anderes – etwas weniger selbstverständlich. Sprache trennt, kategorisiert; sie schafft Realität. Die Norm unter Weinbergschnecken scheint hingegen Gleichberechtigung zu sein.
Woher übrigens wissen sie, ihre perfekt nach Fibonacci kalkulierten Schneckenhäuschen zu konstruieren? Aber die Frage ist natürlich auch Quatsch, denn Leonardo Fibonacci hat ihren Millionen Jahre alten Bauplan studiert und nicht andersherum, er hat aus seinen Naturbeobachtungen die Zahlenreihe der Spirale, dieses zeitlich wie räumlich sich manifestierende Prinzip des organischen Wachstums, abgeleitet: (0), a, a + a, b, a + b, c, b + c usw.: in Zahlen (0), 1, 2, 3, 5, 8, 13 und so weiter, bis in die Unendlichkeit. Die Spiralen der Schneckenhäuschen drehen sich gewöhnlich im Uhrzeigersinn; einmal unter 100.000 Tieren verhält es sich andersherum, und man nennt diese Seltenheit „Schneckenkönig“. Warum nicht „Königin“? Ich schaue kurz zu meinen SchneckenfreundInnen auf der Terrasse; ihre Häuschen drehen sich alle im Uhrzeigersinn. Ich weigere mich, sie deshalb irgendwie weniger wunderbar zu finden: es sind eben SchneckenkönigInnen.
Die Weinbergschnecke ist die in Europa am häufigsten vorkommende Schnecke; aus der englischen Bezeichnung („Roman snail“) geht ihre durch den Menschen bewirkte frühhistorische Verbreitung schon hervor. Im Unterschied zu den Nacktschnecken, die leichter, schneller, wendiger, fast könnte man sagen kosmopolitischer unterwegs sind, bleiben die Weinbergschnecken standorttreu. In einigen EU-Ländern stehen sie unter Schutz. Die Helix pomatia nimmt ihr Futter zu sich über eine Raspelzunge mit 40.000 kleinen Zähnchen; sie streckt ihren Kriechfuß aus und schleppt ihr Schneckenhaus mit sich auf ihrer glitzernden Schleimspur. Wie fühlt sich das an, das gesamte Hab und Gut auf dem Rücken zu tragen? Aber ich projiziere, denn ich denke schon an den Lagerraum in Berlin mit all den Bildern aus einem halben Leben, fast dreißig Quadratmeter Vergangenheit, die mich an Ort und Stelle binden – aber vielleicht kann man sich mit diesem Gehäuse auf dem Rücken trotzdem durch die Welt fortbewegen, und vielleicht zeigen mir die Schnecken, wie es geht.
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Andrea Scrima