Ich habe die Ecke sofort wiedererkannt: direkt neben der Kunsthochschule Cooper Union, auf der Lafayette Street in Downtown Manhattan. Auf der anderen Straßenseite gab es lange Zeit einen großen Parkplatz; am Rande dieses Parkplatzes, zusammengebastelt zu einer bunten Bricolage im öffentlichen Raum, versammeln sich weggeworfene Stofftiere und Klamotten, Hausrat, ein exzentrisch verformter Regenschirm und abmontierte Autoteile zu einem spielerischen, äußerst merkwürdigen Gebilde. Es handelt sich um ein Werk des verstorbenen afroamerikanischen Künstlers Curtis Cuffie, eine von vielen ephemeren Assemblagen, die er in den achtziger und neunziger Jahren in den Straßen von Downtown New York geschaffen hat.
Cuffie hat seine improvisierten Ensembles aus gefundenen Gegenständen an Maschendrahtzäunen, Fenstergittern, Bürgersteigen oder Verkehrsschildern am Cooper Square und in der Bowery installiert; es waren immer temporäre Arbeiten, von denen nur wenige überlebt haben. Nun hat der Grazer Kunstverein seine Räume komplett verdunkelt, um eine über 700 Bilder umfassende Ausstellung dieser eleganten, humorvollen, sparsamen, aber auch schrillen und traurigen Ensembles in Form von analogen Diaprojektionen zu präsentieren.
„Gespenstisch, sonderbar belebt und wie in eigener Mission“
Cuffie war ein Künstler, der zeitweise obdachlos auf eben diesen Straßen um Cooper Square lebte. Umso unmittelbarer und intimer muss sein Verhältnis zu den gefundenen Schätzen gewesen sein, die er sammelte und in Einkaufswagen mit sich herumschob. Die meisten Werke, die er aus diesem Materialfundus geschaffen hat, sind abstrakt; sie wirken mitunter wie Schreine oder, für den vorbeifahrenden Autoverkehr, im Seitenspiegel aufblitzende, seltsam außerweltliche Erscheinungen. Cuffie hat nämlich auch Kleidungstücke auf Draht und Schnur aufgespannt und mit Hüten oder Perücken versehen, Figuren, die aus dem Treibgut dieser in stetiger Verwandlung begriffenen Stadt emporzuwachsen scheinen: gespenstisch, sonderbar belebt und wie in eigener Mission. Heute werden die wenigen von Cuffies Arbeiten, die nicht von Polizei oder Straßenreinigung weggeräumt und zerstört wurden, in den makellosen weißen Räumen von Galerien in Uptown Manhattan ausgestellt und verkauft, ihres Kontextes und vielleicht auch teilweise ihres Sinns beraubt.
Damals gab es einige Künstler, die mit ihren improvisierten Skulpturen aus gefundenem Material, meist Müll und verrosteten Metallteilen, das Straßenbild des East Village bereicherten. Einige haben auch Performances inszeniert. Zu den bekanntesten gehört David Hammons, der an der südöstlichen Ecke Cooper Square und Astor Place, wo andere Straßenhändler LPs und gebrauchte Taschenbücher verkauften, an einem eisigen Februarnachmittag Schneebälle verschiedener Größen anbot. Das war im Jahr 1983, ein Jahr bevor ich als junge Kunsthochschulabsolventin nach Berlin zog. Die ironischen Aktionen von Hammons gehörten zu seiner kritischen Haltung der kommerziellen Kunstwelt gegenüber; als Tarnung bediente er sich diverser Klischeebilder über Afroamerikaner und unterstrich dabei – zunächst unter dem Radar der offiziellen Kritik und später als gefeierter Konzeptkünstler – ihre prekäre Lage am Rande der weißen Gesellschaft. Ich lebte nicht weit von Cooper Union und kann mich gut an den Tag erinnern, an dem ich dort vorbeilief und als junge Künstlerin von dieser brillanten gesellschaftskritischen Geste nur wenig begriff. Aber zu meiner Verstörung erinnere ich mich nicht an seinen Protegé Cuffie, da er mit seinen Installationen auf offener Straße erst in den Jahren nach meinem Weggehen begann.
Es versteht sich von selbst, dass diese Arbeiten außerhalb des Kunstsystems und gewissermaßen aus innerer Notwendigkeit entstanden sind. Mitten in der Hamsterradexistenz der Großstadt New York schaffte Cuffie unverhoffte Oasen, die zum Innehalten und zum Staunen einladen. Mit ihren ausrangierten Trompeten und schlangenartigen Schläuchen bieten sie einen gedanklichen Spielraum an, eine Art Freiheit und Schutz. Geboren in South Carolina zog Cuffie als Fünfzehnjähriger nach New York. Er wurde nur 47. Auch wenn die alternative Welt, die seine Arbeiten vergegenwärtigen, für ihn selbst nicht ganz in Erfüllung gegangen ist, eröffnen sie immer noch neue Denkräume – in denen die Schärfung der Wahrnehmung zum nachhaltigen, eigentlich politischen Akt wird.
Andrea Scrima