Selten kommt vor, dass eine Universität wegen einer wissenschaftlichen Entdeckung eine Pressekonferenz mit dem Rektor an der Spitze abhält: Am Donnerstag war es an der Uni Graz so weit und in der Aula und via Livestream entfaltete sich ein richtiger Forschungskrimi:

War zuerst geschockt

Mit einem Zufallsfund wurde praktisch die bisher bekannte Geschichte des gebundenen Buches umgeschrieben. Die Wissenschaftlerin und Restauratorin Theresa Zammit Lupi sah sich bei einer Routinekontrolle auch die 52 Papyrusfragmente an, die seit knapp 120 Jahren im Sondersammlungsbestand der Grazer Uni liegen. "Zuerst sah ich ein Stück Faden, dann einen zentralen Falz und Heftlöcher", schilderte Lupi jenen 11. Mai 2023. All das sind Zeichen eines gebundenen Buches – aber das durfte es ja gar nicht geben! "Ich war geschockt und habe es zuerst leugnen wollen. Ich habe eine ganze Welle an Emotionen erlebt."

So rekonstruiert man das ursprüngliche Blatt des Notizbuches. Eingetragen sind die Entdeckungen
So rekonstruiert man das ursprüngliche Blatt des Notizbuches. Eingetragen sind die Entdeckungen © KK


Denn der bisher älteste Nachweis einer Buchheftung stammt aus dem 2. Jahrhundert nach Christus. Dieser Papyrus aber ist 400 Jahre älter – 260 vor Christus. Anders gesagt: Das älteste bisher bekannte Buch im heutigen Sinn (zum Umblättern) gab es offenbar 400 Jahre früher, und ein Rest davon liegt in Graz.

Wie aus dem Roman

Das Papyrusfragment selbst hat eine Geschichte wie aus einem Roman: Ursprünglich war es ein Blatt in einem Notizheft zu einer Rechnung einer Bier- und Ölsteuer in Griechisch in der ptolemäischen Zeit (305 bis 30 vor Christus). Doch der Papyrus wurde wiederverwertet: als Kartonage zur Umhüllung einer Mumie.

Diese Mumie wurde 1902 entdeckt und die Umhüllung zerlegt – von einer britischen Forschungsexpedition in der Nekropole von Hibeh südlich von Fayum in Ägypten. Diese Expedition hatte die Stadt Graz mitgesponsort. Zum Dank überließ man der Stadt die 52 Papyrusstücke, die diese an die Uni weitergab. 120 Jahre blieb das Stück praktisch unbeachtet hinter Glas, bis eben Lupi der Faden und der Falz auffielen.

Livestream zum Nachschauen

Lupi stammt aus Malta, begeisterte sich als Jugendliche an der Restauration der Sixtinischen Kapelle und studierte in Malta, in Florenz und in London Kunstgeschichte und Buch- und Papierrestauration.
Im Lauf ihrer Karriere (unter anderem ein Harvard-Stipendium, USA, lernte sie Erich Renhart kennen, den Leiter der Sondersammlungen an der Unibibliothek Graz und selbst ein Spezialist in der Handschriftenforschung aus dem Altertum (etwa von Pergamenten, die mehrfach beschrieben wurden). Dieser lud Lupi ein, sich für Graz zu bewerben. Seit 2021 ist die Malteserin nun hier tätig, wobei ihr Spezialgebiet Chorliteratur aus dem 16. Jahrhundert ist.

Renhart geht davon aus, dass jetzt weltweit alle Sammlungen ihre Papyrusbestände durchforsten werden, ob sie nicht auch Buchhinweise finden. Forschung besteht oft in einem Perspektivenwechsel: Seit Jahren sind die Grazer Fragmente online zugänglich – nur hat keiner so genau hingesehen wie Lupi. Bibliotheksleiterin Pamela Stückler und Rektor Peter Riedler sind stolz auf den Fund, der Geschichte schreibt. Riedler: "Heuer noch werden wir internationale Spezialistinnen und Spezialisten zu einer Fachtagung einladen, um die Bedeutung und die weiteren Forschungsfragen zu erörtern."

An der Universität Graz gibt es eine große Sondersammlung, die aus Schenkungen, wissenschaftlichen Sammlungen und aus alten Klosterbibliotheken der Steiermark stammt. Dementsprechend wird hier an diesen Stücken, von denen viele unbezahlbar sind, häufig geforscht.