Als Hitler im April 1938 mit einer Parade durch Wien zog, um den Anschluss zu feiern, konnte Norbert Raucher das Spektakel von seinem Arbeitsplatz aus beobachten. "Ich hatte ein ungutes Gefühl", würde Raucher berichten. Wenige Wochen später, in der Nacht auf seinen 18. Geburtstag, wurde er verhaftet. Weil er kein Hakenkreuz trug. Er wurde nach Dachau überstellt. Welches Martyrium der junge Wiener im Konzentrationslager erlebte, würde seine Enkelin Amy Feineman Jahrzehnte später nach langer Spurensuche erfahren.
Feineman lebt seit zwei Jahren mit ihrem Mann und ihren Töchtern Ava und Lily in Graz. Obwohl sie in den USA aufgewachsen ist und ihr Deutsch noch brüchig ist, besitzt sie neben dem amerikanischen auch einen österreichischen Pass. Der Grund ist eine Novelle zum Staatsbürgerschaftsgesetz, die 2019 beschlossen wurde und Nachkommen von Verfolgten des Nationalsozialismus den Erwerb der Staatsbürgerschaft ermöglicht.
Es ist ein kühler, verregneter Maitag in Mariatrost. Im Heizofen knistert es, Hündin Lollipop hat es sich unter der Wohnzimmerbank gemütlich gemacht. "Von der Novelle habe ich 2020 durch einen Facebook-Beitrag erfahren", sagt Feineman. Dass sie gerne auswandern würden, wussten Feineman und ihr Mann zu dem Zeitpunkt bereits. Damals wohnten sie noch in Colorado, wo ihre Tochter mit nur drei Jahren ihren ersten Schul-Lockdown erlebte – eine Sicherheitsvorkehrung, die getroffen wird, wenn in der Nähe eine Schießerei im Gange ist. "Und durch Trump als Präsident wurde das Land gespalten", sagt Feineman. Die Frage war, wohin es für die Familie gehen sollte.
Reisepass aus dem Deutschen Reich
Auch wenn ihr Großvater nie offen über den Holocaust sprechen wollte, gibt es zahlreiche Dokumente, durch die das Erlebte nachkonstruiert werden konnte. Der Reisepass aus dem Deutschen Reich, mit großem, rotem J-Stempel – und auf den darauffolgenden Seiten das wohl lebensrettende Visum, das Raucher die Einreise nach England ermöglichte sowie jenes für die USA. "Er sprach nie Deutsch und erzählte uns nichts von seiner Kindheit", sagt die 37-Jährige. Vor seinem Tod mit 93 Jahren litt er zudem unter Demenz. Doch die US-Amerikanische Shoah Foundation – Shoah ist das hebräische Wort für Holocaust – dokumentierte ein stundenlanges Video-Interview mit Raucher, in dem er sich öffnete: "Dort berichtete er von den schönen Erinnerungen seiner typischen Wiener Kindheit. Er liebte die Wälder, hatte viele Freunde, nahm Gesangsunterricht für die Oper und begann eine Schneiderlehre." Bis zu jener verhängnisvollen Nacht, in der nicht nur er, sondern auch zwei seiner Brüder verhaftet wurden, wie sich herausstellen sollte.
Raucher wuchs nicht in einer typisch jüdischen Gemeinde auf. Die Soldaten, die später die Menschen im Gefängnis ausrauben und zusammenschlagen würden, waren Freunde der Familie – und erkannten Raucher auch. Sie verschonten ihn in dem Moment, bewahrten ihn aber nicht vor dem Konzentrationslager. "Im Video spricht er detailliert über die Zugfahrt nach Dachau, wo die Gefangenen aneinander gepfercht und bestraft wurden, wenn sie die Kraft verließ und sie zusammensackten", sagt Feineman.
Feineman im Video-Interview
Mehrere Monate lang war Raucher in Dachau, wo er und die anderen Gefangenen schuften mussten, damit ihr Geist gebrochen wird. So mussten sie tonnenweise Sand transportieren – nur um den Sand am nächsten Tag wieder zurückzuschleppen. "Die Wachen verspotteten die Gefangenen und versuchten sie zu provozieren, damit sie auf sie schießen konnten", gibt Amy das wieder, was ihr Opa im Video-Interview erzählte. Später kam Raucher, ein junger, starker Mann, nach Buchenwald, um dort bei der Errichtung des Quartiers für Offiziere zu helfen. Eine Arbeit, die körperlich noch härter war, "aber zumindest gab es ein Ziel". Und dann kam der Morgen, der für Raucher alles veränderte.
Das rettende Visum
"Die Gefangenen mussten sich in einer Reihe aufstellen. Mein Opa und ein paar weitere Männer wurden herausgegriffen und in einen Raum gebracht, wo sie ein Dokument unterschreiben mussten", erzählt Feineman weiter. In Zivilkleidung wurden sie dann in einen Zug zurück nach Wien gesetzt. Rauchers Familie war es gelungen, ein Großbritannien-Visum für die zwei noch lebenden Söhne zu organisieren: "Ihren anderen Bruder, Leo, sahen sie nie wieder." Erst vor Kurzem erfuhr Feineman durch eine lange Spurensuche, dass er in Dachau ermordet worden war. Mit der Hilfe seiner Cousins in New York kam Raucher schlussendlich in die USA, wo er später seine Frau kennenlernen und sein restliches Leben verbringen sollte.
In der Dokumentenmappe mit dem Pass ihres Großvaters, die Feineman in ihrem Grazer Haus aufbewahrt, ist auch ein Brief des Wiener Bürgermeisters Michael Ludwig. Darin gratuliert Ludwig Feineman und ihren Töchtern zur österreichischen Staatsbürgerschaft: "Möglicherweise stellt sie für Sie auch den Beginn eines neuen Lebensabschnitts dar." Für die Feinemans war das tatsächlich der Fall.
"Im Jänner 2021 beantragten wir die Staatsbürgerschaft und die Zusage bekamen wir sechs Monate später, einen Tag vor unserem Umzug nach Graz", sagt Feineman. "Es war ein sehr emotionaler Moment, das hatte ich nicht erwartet." Bis heute weiß sie nicht, wie ihr Großvater reagieren würde, wüsste er, dass sie in Österreich lebt – jenem Land, das er so geliebt und das ihn so hintergangen hatte.
Spezielle Beziehung zu Österreich
Feineman selbst hat nun eine ganz spezielle Beziehung zum Land. Der Grund, warum sie und ihre Familie nach Österreich gezogen sind, mag ein praktischer gewesen sein und, dass die Wahl auf Graz fiel, ein Zufall. Amy Feinemans Mann hatte bereits vor dem Umzug einen Job bei einer Softwarefirma gefunden. Sie selbst hat sich als Sattelmacherin selbstständig gemacht – den Beruf hatte sie auch in Colorado ausgeübt. Inzwischen hat sie aber die österreichische Kultur, der Charme der Stadt und die Gastfreundschaft in ihren Bann gezogen, wie sie sagt. Und erst jetzt sieht Amy, wie österreichisch ihr Opa noch bis zu seinen letzten Tagen war: "Das beginnt bei seiner Liebe zu Seen bis hin zu kleinen Gewohnheiten." Da wäre etwa die Sache mit dem Eiskaffee: "Ich hatte nie verstanden, warum mein Opa immer eine Kugel Eis in seinen Kaffee gab. Aber jetzt, wo ich das auch hier sehe, ergibt alles Sinn."
Feinemans Eltern besuchten Amy vor Kurzem in ihrem Haus in Graz. Sie selbst sind nach Australien ausgewandert und freuen sich, dass ihre Tochter in Österreich ihre neue Heimat gefunden hat. Schuldzuweisungen und Groll aus der Vergangenheit haben für sie keinen Platz, auch wenn das nicht alle Familienmitglieder so sehen: "Es war einfach für alle eine schreckliche Zeit."
Während Amy Feineman sich eingesteht, dass sie wohl nie eine "komplette" Österreicherin sein wird, sprechen ihre sechs- und neunjährigen Töchter bereits fließend Deutsch. Die Geschichte ihres Opas haben ihre Eltern altersgerecht mit ihnen aufgearbeitet.
Claudia Mann