Die Autorin dieser Zeilen ist eine notorische Zuspätkommerin. Nicht an diesem Tag. Brigitte und Hannes können mit chronischer Unpünktlichkeit beide nichts anfangen. Das lässt ihre Sucht nach Perfektionismus nicht zu. Vor dem Treffen klären die beiden daher auch alle wichtigen Details ab. "Wie lange wird das Interview dauern? Mit welchen Fragen dürfen wir rechnen?" Das Interview verstehen beide als Arbeitsauftrag, also wird viel Energie und Vorbereitung investiert. Noch ein Punkt auf ihrer To-do-Liste, noch eine Gelegenheit sich zu beweisen. An diesem Tag 20 Minuten vorher am vereinbarten Treffpunkt anzukommen, beeindruckt die beiden nicht, sie sind längst da. Hannes und Brigitte sind arbeitssüchtig und nehmen regelmäßig am Treffen der AAS, der Anonymen Arbeitssüchtigen, in Graz teil.
Den ersten Zusammenbruch hatte Hannes mit Ende zwanzig: "Damals war ich 27, Prokurist bei einer kleinen Firma, als ich im Büro einen Nervenzusammenbruch hatte und ins Spital musste." Früher kommen, später gehen und zu Hause weiter arbeiten – wie im Rausch. Bald hatten die heimlichen Überstunden Hannes Leben völlig eingenommen. "Das hätte mir zu denken geben müssen. Stattdessen kam mir nur eins in den Sinn: Pech gehabt", sagt er heute. Damals arbeitete er vom Krankenhausbett weiter, bis er erneut zusammenbricht. Nach zehn diagnostizierten Burnouts und 20 Jahren Antidepressiva ist der heute 58-Jährige arbeitsunfähig.
Junge Menschen sind gefährdet
In den 1990er-Jahren waren vorrangig Manager oder Freiberufler gefährdet, heute betrifft die Arbeitssucht auch Angestellte und immer mehr junge Menschen. In den letzten beiden Jahren wurden bei der Hotline der AAS vermehrt Anrufe von jungen Arbeitnehmerinnen oder Studierenden registriert. "Die Jungen werden oft als faul bezeichnet, nicht immer trifft das zu. Bei jungen Menschen ist durchaus ein starker Leistungsgedanke da. Was wir auch merken: viele wollen flexible Arbeitszeiten, können dadurch aber immer schwerer Privates von Beruflichem trennen. Auf Dauer kann das zur Herausforderung werden", erklärt Arbeitspsychologin Cornelia Hubich-Schmon.
Österreichweit gibt es bis zu fünf Selbsthilfegruppen für Arbeitssüchtige. Ganz nach dem Vorbild der Anonymen Alkoholiker orientieren sie sich am berühmten Zwölf-Schritte-Programm. Betroffene, wie Hannes und Brigitte, versuchen dort, gegen den Drang der Dauerbeschäftigung anzukämpfen.
Arbeitssüchtig und berufstätig
Brigitte arbeitet trotz ihrer Sucht. Die 63-Jährige ist seit 30 Jahren Beamtin. "Für Süchtige klappt das gut", sagt sie. "Ich habe mir durch Arbeit Wertschätzung erkauft. Und wenn ich nicht leistete, hatte ich Schuldgefühle, also habe ich mir immer mehr und mehr Aufgaben aufgehalst, als ich erledigen konnte."
Jetzt denkt sie panisch an ihren Pensionsantritt, der in zwei Jahren ansteht. Kein Büro, keine Aufgabenliste, nur die Angst vor der Leere eines neuen Lebens: "Es macht mir Angst, dass die Struktur wegfällt. Obwohl ich, seitdem ich in der AAS bin, schon wesentlich strukturierter bin. Ich mache mir einen Tagesplan, auch wenn dieser meistens noch immer zu lang ist. Ich neige dazu, die Arbeit zu unterschätzen und meine Möglichkeiten zu überschätzen."
Von der Arbeitssucht loszukommen, fällt den Betroffenen besonders schwer, weil eine völlige Abstinenz kaum möglich ist. Hinzu kommt, Arbeitssüchtige fallen kaum negativ auf. Im Gegenteil: "Wer viel arbeitet, bekommt Geltung und Ansehen", erklärt Hubich-Schmon, "erst wenn dadurch soziale Beziehungen zerbrechen, Familien kaputtgehen, sprechen wir von krankem Arbeitsverhalten, von Sucht", sagt die Expertin.
Hubich-Schmon rät Gefährdeten und Betroffenen daher, sich rechtzeitig abzugrenzen: "Arbeit ist und bleibt ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens. Sie soll Freude bereiten, aber wenn sie vorbei ist, soll es uns trotzdem gut gehen."
Das Gespräch mit Hannes und Brigitte endet früher als ausgemacht. Die gewonnene Zeit nutzen beide für einen gemeinsamen Kaffee – und hoffentlich zum Abschalten.
Daniela Breščaković