Am Ende der Brücke steht ein alter Mann, der an einem kleinen Stand dampfende Maiskolben verkauft. "Deine Frau war gerade mit den Kindern hier", ruft ihm der Alte zu. "Ich weiß, sie sind zum Spielen runter in den Park", antwortet er. Alen Muhić ist 29 Jahre alt, verheiratet und Vater zweier Söhne. Mit Tausenden anderen teilt er das Schicksal der sogenannten "vergessenen Kinder des Krieges". Seine Mutter gehört zu jenen Frauen, die im Bosnienkrieg zwischen 1992 und 1995 systematisch vergewaltigt und geschwängert wurden. Die NGO "Forgotten Children of War" sowie andere Organisationen schätzen zwischen 2000 und 7000 solcher Kinder. Die meisten schweigen aus Angst vor der Stigmatisierung.
Überreste von 49 Personen werden beigesetzt
In seiner Heimatstadt Goražde kennen alle Alen und seine Geschichte, lange bevor er selbst davon erfuhr. Die Stadt an der Drina liegt zwischen Sarajevo und Srebrenica im Osten Bosnien-Herzegowinas. Vor 27 Jahren verübten bosnische Serben in Srebrenica und im Umland einen Völkermord an bosnischen Musliminnen und Muslimen. Allein in Srebrenica starben damals über 8000 Menschen. Am Donnerstag verurteilte der Nationalrat einstimmig das verübte Kriegsverbrechen aufs Schärfste. Am heutigen Gedenktag werden sterbliche Überreste von 49 Personen beigesetzt. Über 1000 Opfer sind noch unbekannt. Ihre Knochen liegen verstreut in vermintem Gebiet oder wurden von Flüssen abgetragen.
Bis zu 50.000 Frauen wurden vergewaltigt
Auch die Massenvergewaltigungen waren ein Werkzeug ethnischer Säuberung. Zwischen 12.000 und 50.000 muslimischer Mädchen und Frauen aus ganz Bosnien wurden laut UN-Ausschuss von feindlichen Soldaten und Separatisten vergewaltigt. Eine davon war Alens Mutter.
Mit sieben Jahren erfuhr er zum ersten Mal von ihr und von seiner Adoption: "Ich bin damals in eine Rauferei geraten. Ein Bub schubste mich und sagte, ich sei der 'Bastard eines Tschetniks'. Ich wusste nicht, was er damit meint, also lief ich nach Hause und fragte meinen Vater." Sein Vater nahm ihn auf den Schoß und erzählte ihm, dass er der leibliche Sohn einer vergewaltigten Bosniakin und eines serbischen Soldaten ist. "Für meine Eltern war es damals sehr schwer. Ich bin froh, dass sie es mir trotzdem erzählt haben. Hätte ich später davon erfahren, wäre es mir noch schwerer gefallen, denke ich."
Alen trifft seine leiblichen Eltern
Alens Mutter wurde im Krieg in ein Hochhaus nach Foča verschleppt, wo sie mit weiteren Frauen über sieben Monate gefangen gehalten wurde. Soldaten vergingen sich an ihnen, missbrauchten und zwangsschwängerten sie. Ziel der gewaltsamen Zeugung war es, die Frauen für den Rest ihres Lebens zu brandmarken. Im Zuge eines Gefangenenaustauschs kam sie nach Goražde, um zu entbinden. Nach drei Tagen verließ sie das Krankenhaus und ließ das Baby zurück. Einen Namen gab sie ihm nicht. So erzählte sie es ihm, als Alen 2016 vor ihrer Tür stand.
In der Pubertät wuchs in ihm der Wunsch, seine leiblichen Eltern kennenzulernen. Mit 22 Jahren fand er seine Mutter – kurz darauf auch seinen Vater. Seine Mutter lebt in den USA, war zu diesem Zeitpunkt aber in Sarajevo. Als er an ihre Tür klopfte, hatte er keine Vorstellung davon, was ihn erwarten würde. "Das Erste, was ich sah, war das Leid in ihren Augen", erinnert sich Alen. Beide brachen in Tränen aus, viele Worte hatten sie aber nicht füreinander. Nach einer Weile fragte sie ihn: "Wer ist deine Mutter?" Alen erwiderte: "Meine Mutter heißt Advija." Jene Frau, die ihn adoptiert und aufgezogen hat.
Mit sieben Monaten wurde Alen zur Adoption freigegeben. Sein Adoptivvater Muharem arbeitete damals als Hausmeister in jenem Krankenhaus, wo Alen zur Welt kam. Tag für Tag kam er an sein Kinderbett, trug ihn, spielte mit ihm und nahm ihn immer wieder mit nach Hause zu seiner Familie. Das Ehepaar Muhić hatte zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Töchter. Alens Schicksal berührte sie, und als er zur Adoption freigegeben wurde, holten sie den Buben zu sich. Alens leibliche Mutter bekam selbst zwei Kinder, er zwei Halbbrüder. Wer Alen ist, wissen sie nicht.
"Dein biologischer Vater"
Seinen Vater hat Alen nicht aktiv gesucht, bis ihn auf einmal ein Anruf ereilte: "Am anderen Ende meinte jemand zu mir: 'Dein Vater ist zu Hause, wenn du ihn sehen möchtest.' Ich sagte, mein Vater ist zum Angeln gefahren. 'Nein, nicht der, dein biologischer Vater', erwiderte der Mann." Wer die Stimme am Telefon war, weiß Alen bis heute nicht. Er fuhr nach Foča, wo seine Mutter vor über 20 Jahren vergewaltigt wurde und stand vor der Tür jenes Mannes, der Schuld daran war. "Dann ging die Tür auf und da stand ich, nur etwa 20 bis 30 Jahre älter. Ein zweiter Alen sozusagen." Er stellte sich vor, woraufhin ihm der Mann erwiderte: "Ich weiß, wer du bist."
Alen wollte Antworten: "Warum hast du das getan?", fragte er ihn. Der Mann schüttelte den Kopf und erklärte, es sei keine Vergewaltigung gewesen. Später gab er zu, höherrangige Offiziere hätten ihm die Anweisung dazu gegeben. Er wurde für seine Taten verurteilt, ins Gefängnis musste er nicht. Weil er vor dem Richter die Vaterschaft anerkannt hatte, wurden ihm mildernde Umstände gewährt. "Ich weiß, dass die Strafmilderung der einzige Grund dafür war." Trotzdem bereut Alen das Treffen nicht: "Ohne ihn gäbe es weder mich noch meine Familie. Aus irgendeinem Grund wollte ich wissen, wer er ist."
Mit Ausnahme zufälliger Begegnungen auf der Straße oder im Café war es das letzte Mal, dass Alen seinem Vater gegenüberstand. Auch seine Mutter traf er nie wieder. "Ich habe mich damit abgefunden. Das Einzige, was jetzt für mich zählt, ist meine Familie", sagt der ausgebildete Rettungssanitäter. Die Bilder aus der Ukraine machen ihn wütend: "Es ist abscheulich, dass sich die Gewalt jedes Mal gegen Frauen richten muss."
Obwohl in Goražde alle sein Schicksal kennen, denkt Alen nicht daran, die Stadt zu verlassen. Seine Söhne, der fünfjährige Rejjan und Ismail, der heuer zwei Jahre alt wird, wissen noch nichts über die Vergangenheit ihres Papas. Alen weiß, wenn der Zeitpunkt da ist, wird er ihnen davon erzählen: "Ich habe Angst davor, weil ich nicht weiß, wie sie reagieren werden. Doch es ist wichtig, das Schweigen zu brechen und zu zeigen, wir sind mehr, als nur die Kinder des Hasses."
Daniela Breščaković