Zufällig steht er noch. Der 175 Meter hohe Kamin mit den weithin sichtbaren roten Streifen ist das höchste Bauwerk der Steiermark. Hätte man sich seitens Eigentümer Verbund bei den Abbauplänen anders entschieden, wäre er vielleicht schon gesprengt und das Steinkohlekraftwerk Mellach, einst das Fernwärme-Rückgrat von Graz, wäre heute schon eine grüne Wiese. "Doch die Unternehmensleitung hat entschieden, das Kraftwerk Dürnrohr in Niederösterreich zuerst zurückzubauen", sagt Kraftwerksleiter Christoph Kurzmann-Friedl. Deswegen ist Mellach heute beinahe betriebsbereit.
Vor wenigen Tagen ist dann die politische Idee entstanden, die sich verschärfende Gaskrise mit Kohle abzufangen, Steinkohle um genau zu sein. Gerechnet hätte man damit nicht. "Dass Mellach noch steht, ist reiner Zufall. 2024 oder 2025 sollte der Rückbau beginnen", betont der Chef, der den gesamten Kraftwerkspark und damit auch das 832 Megawatt (MW, elektrisch) starke Gaskraftwerk auf dem Gelände leitet.
"Wir haben ja nichts mehr angegriffen"
Überrascht worden ist auch Schlossermeister Peter Probst. Eigentlich Lehrlingsausbildner für den Neuzugang im Gaskraftwerk springt der 55-Jährige spontan als Kraftwerksführer ein. Probst kennt das Werk wie seine Westentasche, denn der Voitsberger ist seit 25 Jahren hier beschäftigt. Durch die 400 Meter lange Hauptförderung führt er steil bergauf, links und rechts stehen die beiden schwarzen Förderbänder seit 2020 still. Unter den Schuhen knirscht es leise, der Boden ist noch mit Steinkohlestaub bedeckt. "Wir haben hier nichts mehr angegriffen", erzählt Probst. "Es hat ja geheißen, dass das Werk abgerissen wird."
Bei Vollbetrieb werden über diese Förderbänder rund 90 Tonnen Steinkohle pro Stunde nach oben transportiert. Von dort fällt sie in vier große Mahlwerke, die die Brocken in feinen Staub zerreiben. Mit diesem wird der Kessel beheizt, der im 100 Meter hohen Kesselhaus darüber hängt. "Er hängt, weil er sich bis zu einem Meter ausdehnt, wenn er warm wird", weiß Peter Probst. Ganz oben, am Wärmetauscher, zeigt er die meterhohen Stahlträger, die der Konstruktion Halt geben.
Da der Kessel nach dem Entschluss, nicht mehr mit Kohle zu heizen, auf Gas umgerüstet wurde, müssten ein paar Leitungen neu verlegt werden. Das 1983 bis 1986 errichtete Kraftwerk wurde als Reserve für die Spitzenabdeckung kurzzeitig mit Gas betriebsbereit gehalten. Mit diesem Brennstoff kann das Werk auf Teillast mit ca. 60 Prozent Leistung betrieben werden. Für eine Umrüstung müsste man einige wenige Umbauten vornehmen. "Technisch ist das überhaupt kein Problem", sagt Werksgruppenleiter Kurzmann-Friedl. "Wir könnten mit dem Kohlekraftwerk Mellach in drei bis vier Monaten ans Netz gehen." Was bisher fehle, sei ein konkreter Beschluss. Erst dann könne man "budgetwirksame Maßnahmen" treffen. Hieße konkret: Steinkohle einkaufen, eine technische Revision durchführen und zusätzliches Personal anheuern.
450.000 Tonnen Steinkohle pro Jahr
Die Steinkohle sei früher hauptsächlich aus Polen geliefert worden, erklärt Kurzmann-Friedl. 450.000 Tonnen pro Jahr sind notwendig, um im Volllastbetrieb 230 Megawatt thermische Wärmeleistung zu erzielen. Das entspricht etwa 80 Prozent des Grazer Winter-Verbrauchs. "In Europa gibt es keine Kohle zu einem vernünftigen Preis", sagt der Werksleiter. Am Weltmarkt wäre sie beschaffbar. Problematisch sieht Kurzmann-Friedl in diesem Zusammenhang eher die Logistik, die kurzfristig zu organisieren wäre. Auch beim Personal macht man sich wenig Sorgen. 100 Arbeiter sind derzeit im Gaskraftwerk beschäftigt, für einen Mitbetrieb des Kohlekraftwerks würde man 40 zusätzliche brauchen. Arbeiter mit Expertise in Steinkohlekraftwerken seien noch im Verbund zu finden.
Auf Biomasse umzurüsten dauert Jahre
Was es nun brauche, sei eine schnelle Entscheidung. "Das Kohlekraftwerk Mellach ist eine absolute Notlösung", sagt Kurzmann-Friedl. Doch es sei eine sehr effiziente, mit der man Erdgas schnell substituieren könne. Und es sei auf dem neuesten technischen Stand: Als Kraft-Wärme-Kopplung, die ja neben Wärme auch Strom produzieren würde, erreiche man einen Wirkungsgrad von bis zu 80 Prozent. Das Kraftwerk auf einen anderen Brennstoff, etwa Biomasse, umzurüsten, wäre technisch möglich. Mit einer kurzfristigen Problemlösung hätte das allerdings nichts zu tun: Es würde Jahre dauern. Zudem sei die Versorgung mit Biomasse für ein Kraftwerk dieser Größenordnung keineswegs gewährleistet.
Kurzfristig und als Notfalllösung könnte der 175 Meter hohe Kamin wieder rauchen und das Kraftwerk Fernwärme für die Stadt Graz liefern. Die CO₂-Emissionen wären allerdings doppelt so hoch wie bei Gas, nämlich 0,8 Tonnen pro Megawattstunde. Im angrenzenden Wildon möchte der Gemeinderat sicherstellen, dass eine Reaktivierung des Steinkohlekraftwerks Mellach nur als "absolute Notmaßnahme" passiert. Außerdem seien sämtliche Umweltauflagen einzuhalten, die auch während des Betriebs bestanden. Ein diesbezüglicher Beschluss liegt bereits vor.