Ein warmer Tag im Juli. Melanie Müller* sitzt im Gartenhäuschen in der Grazer Bunsengasse 7. Sie trägt ein kurzärmliges Leiberl, auf ihren Unterarmen Narben. Die 33-Jährige wirkt entspannt, schenkt sich ein Glas Wasser ein. Sie will genau hier sitzen, sagt sie, und ihre Geschichte erzählen.

Hier, das ist die Schwalbe. Eine Wohn- und Beschäftigungsinitiative für Frauen in Lebenskrisen. Dazu gehören eine alte Villa und ein Garten, in dem eben jenes Gartenhäuschen steht. Es ist das Zuhause von Melanie Müller und sieben anderen Frauen. Die meisten haben Missbrauch in der Familie erlebt. Die Statistiken zeigen: Meistens sind es Frauen und Kinder, die Gewalt in Familien trifft.

Missbrauch am Bergbauernhof

Melanie Müller wächst auf einem Bergbauernhof auf. Mama Müller ist 20 Jahre alt, als sie Tochter Melanie zur Welt bringt. Kurz davor musste noch geheiratet werden. Der Bergbauernhof gehört der Familie des Vaters, die Großeltern leben im selben Haus, Arbeit gibt es haufenweise. Es wird viel gestritten, daran erinnert sich Melanie Müller. „Meine Mutter ist nie mit meinem Vater zusammengekommen.“ Das Kind wird zum Prellbock. Ihre Mutter „schreit sie nieder“, wenn sie nur vorbeigeht. Vom Vater wird sie sexuell missbraucht. Ihre Mutter wird handgreiflich. „Einmal hat sie mir in der Früh so eine aufgelegt, dass ich gegen den Türstock geflogen bin und eine blutige Lippe gehabt hab.“ Als Kind schießt ihr durch den Kopf: „Ich muss jetzt gehen. Weil ich weiß nicht, was da noch auf mich zukommt.“ Melanie Müller versucht, still zu sein, unsichtbar, unauffällig. „Ich hab regelmäßig lieber eine halbe Stunde bei minus 10 Grad auf den Schülerbus gewartet, als länger im Haus zu bleiben.“ Im Gegensatz zu ihrer jüngeren Schwester scheint sie jede Emotion abzubekommen.

Als Kind und Jugendliche ist Melanie Müller oft schlaflos. Sie sitzt vorm Fernseher bis vier Uhr morgens, „kurz bevor meine Eltern aufgestanden sind, habe ich mich schnell ins Bett gelegt.“ Sie wird vernachlässigt. „Es ist nie jemand zu mir hergekommen und hat mich umarmt. Wenn ich zu weinen angefangen habe, hat es geheißen: Was hast denn schon wieder?“ Melanie Müller wird depressiv. „Ich hab mich immer anders gefühlt. Ich war nicht in der Welt angekommen, habe meinen Platz nicht gefunden.“

Das Mädchen flüchtet sich in die Geschichten der wenigen Bücher, die sie hat, in „Die Schatzinsel“ von Thomas Brezina zum Beispiel. Mit 15 Jahren beginnt sie eine Gastronomielehre. Daheim wird es nicht einfacher. Auch wenn sie es nie gesehen hat, sie ahnt, dass ihr Vater auch ihre Mutter misshandelt. „Einmal bin ich zu ihr hin und hab gesagt, wir schaffen das zu dritt, du gehst arbeiten, ich geb mein Lehrgeld her. Aber sie hat es nicht können oder wollen.“

Endstation stationäre Psychiatrie

Als Melanie Müller 18 Jahre alt ist, flüchtet sie. Zu ihrer Tante. Die Zwillingsschwester ihrer Mutter hatte schon immer ein offenes Ohr für sie. „Sie war wie die Mama, die ich nie gehabt habe.“ Doch die Vergangenheit holt Melanie Müller immer wieder ein. „Es reicht, eine Person auf der Straße, die jemandem ähnlich sieht oder der Geruch von einem Aftershave.“ Hilflosigkeit, Angst und Panik überfallen Melanie Müller dann. „Von A bis Z kann alles passieren: Ich verlass das Haus nicht mehr. Bis hin zu: Ich muss mich jetzt komplett selber zerstören, damit mir das nicht nochmal passiert.“ Als sie 20 Jahre alt ist, versucht sie, sich umzubringen und überlebt nur knapp.  

DIe junge Frau kämpft sich zurück
DIe junge Frau kämpft sich zurück © Stefan Pajman

Es folgen Jahre, in denen Melanie Müller viel Zeit in der stationären Psychiatrie verbringt. Zwischendurch rappelt sie sich auf, erkämpft sich ein Praktikum in einer Buchhandlung, zieht dann die Lehre zur Buchhändlerin durch. Sie stürzt sich in die Arbeit, landet aber immer wieder im Krankenhaus. Beim betreuten Wohnen ist sie 2021 auf Wartelistenplatz Nummer 15. Ein Jahr später immer noch. Dann fällt ihrem Sozialbetreuer die Schwalbe ein. Dort kann Melanie Müller einziehen.

Schwalbe als Zuhause

Das war vor eineinhalb Jahren. „Seitdem geh ich der Frau Vanek auf die Nerven“, sagt Müller und lacht. Angelika Vanek-Enyinnaya ist die Chefin der „Schwalbe“. Sie hat die Initiative damals gegründet, weil sie persönlich betroffen war: In der stationären Psychiatrie hat sie gesehen, dass viele Frauen Angst vor der Entlassung haben. „Weil sie wissen, dass es niemanden gibt, der sie weiterträgt. Oft gab es davor einen Kontaktabbruch mit der Familie.“ Vanek-Enyinnaya hat die Lücke geschlossen.

Gemeinsam mit zwei anderen sozialpsychiatrisch ausgebildeten Betreuerinnen bietet sie den Bewohnerinnen Sicherheit und Geborgenheit in der Villa und dem Garten in der Bunsengasse 7. Verlässliche Bezugspersonen, einen strukturierten Tagesablauf mit Yoga, Gehirnjogging, Kochen und Co.

Melanie Müller gartelt gerne, „sowas wie Umstechen“. Auch Würfelspiele mag sie. Manchmal sind die Frauen lieber für sich, „aber manchmal sitzen wir gemeinsam vorm Fernseher und schauen Serien.“ Auch eine Lesegruppe gab es schon.

Angelika Vanek-Enyinnaya ist die Chefin der Schwalbe
Angelika Vanek-Enyinnaya ist die Chefin der Schwalbe © Stefan Pajman

Stärke der Frauen

Melanie Müller sieht die Stärke in den anderen Frauen, in den Betreuerinnen, und weiß, dass es möglich ist: „Draußen“ ein Leben zu führen, eine eigene Wohnung zu haben, in der Lage sein “einfach mal so Freunde zu treffen oder nach Italien zu fahren“ und zu arbeiten.

Um dieses Selbstvertrauen geht es Vanek-Enyinnaya. Das möchte sie den Frauen geben. In der Gesellschaft würde sich Vanek-Enyinnaya aber auch ein „genaueres Hinschauen“ wünschen, was Gewalt an Frauen und Kindern angeht. Denn „man weiß: Frauen die als Kinder Gewalt erlebt haben, erleben oft Gewalt als Erwachsene. Das könnte man oft verhindern.“

Die Schwalbe als Einrichtung ist stark von privaten Spenden abhängig. Bei der öffentlichen Hand „müssen wir jedes Jahr als Bittstellerin zu Kreuze kriechen“, sagt Vanek-Enyinnaya. „Es ist ein Kampf ums Überleben, dass es mit unserem Haus weitergeht.“ Dabei würden Kliniken aus ganz Österreich in ihren Empfehlungsschreiben bezeugen, wie wichtig die Schwalbe als Ort nach dem stationären Aufenthalt ist. Melanie Müller sagt: „Ohne die Schwalbe würde ich nicht mehr dasitzen. Es bräuchte viel mehr von sowas.“

*Name von der Redaktion geändert