Allerheiligen, 2022: Frau K. sitzt im Bus. Seit zwei Tagen. Runde um Runde, von Station zu Station. Unsichtbar kreist sie durch die Stadt, in ihrem Kopf kreisen die Gedanken. Wie lange kann sie noch im Warmen bleiben? Am Bahnhof steigt sie aus, setzt sich auf eine Bank. Später wird sich die heute 50-Jährige erinnern: „Es war scheißkalt. Und ich hab‘ mir gedacht: Schluss, aus, Abenteuer vorbei.“ 

„Ein Abenteuer“, so nennt Frau K. jene Zeit, in der sie keine Wohnung hatte. Notgedrungen stieg sie bei Fremden ab. Meistens Männer, die sie im Café oder auf der Straße kennenlernte. Zunächst erschien ihr dieser Umstand nicht so schlimm: „Ich bin unterwegs, ich mach, was ich will. Werd‘ schon mal da und dort unterkommen – muss ja nicht sagen, dass ich nichts hab.“ Frau K. erhofft sich ein paar Stunden Schlaf, vielleicht auch eine Dusche. Essen muss nicht sein, es geht auch ein paar Tage ohne. Und nach ein paar Stunden? „Da startet das Abenteuer von Neuem.“

Eine Erhebung der Statistik Austria ergab: 2021 waren hierzulande rund 20.000 Menschen ohne fixe Bleibe. Das heißt: Sie waren entweder als obdach- oder wohnungslos registriert. Zwei Drittel davon sind Männer, 60 Prozent leben in Wien. Laut Statistik sind Frauen seltener betroffen, wobei hier die Wahrheit in Relation zur Perspektive steht. Denn die Dunkelziffer ist hoch. Viele Frauen bestreiten ihren täglichen Kampf verdeckt – ihre Notlage versuchen sie zu verbergen. Auf der Straße ist es für sie besonders gefährlich, sie ziehen also von Quartier zu Quartier. Neuer Tag, neue Couch. Oft sind die Frauen dabei Abhängigkeiten ausgeliefert. Richtig zur Ruhe kommen – das konnte auch Frau K. lange nicht.

Die Geschichte von Frau K. im Video

Das Leben als ewige Besucherin verlangt ihr vieles ab. „Irgendwann wird es wirklich anstrengend. Man kann ja nicht mehrere Tage dortbleiben, oft nur eine Nacht“, sagt Frau K. Und hinzu kommt: Nicht jedes Aufeinandertreffen geht gut aus. Frau K. stößt auf Zweckpartner, die Gegenleistungen verlangen. Angst hatte sie anfangs nicht. „Natürlich gab es Situationen, wo man gedacht hat ‚Puh, mehr Glück als Verstand gehabt‘. Aber es war einfach die Notwendigkeit zumindest für ein paar Stunden diese Zeit zu überstehen. Augen zu und durch.“

Keine Chance gegen 130 Kilo Masse

Bis auf einmal, so ziemlich genau vor 16 Jahren. Frau K. hat gerade ein Zimmer auf Zeit für sich. Sie lernt einen Mann kennen, er kam gerade erst aus dem Gefängnis frei. Der Mann lebt bei seiner Mutter. Stolz will er Frau K. sein Zimmer zeigen. „Ich wollte nur kurz reingehen, hab mich umgedreht und schon war es vorbei. In dem Moment war mein ganzes Gesicht schon ramponiert.“ 130 Kilo Masse fallen über sie her. Dass Frau K. zuvor den Nachbar begrüßt hat, reicht für den Mann schon aus. „In seinen Augen hab‘ ich den Hass und das pure Böse gesehen.“ Eine Dreiviertelstunde später eilt die Polizei Frau K. endlich zu Hilfe. Die Nachbarn hatten den Notruf gewählt. Frau K. bedeckt ihren Körper mit den Händen. Ihre Kleidung ist zerrissen. Ein Polizist reicht ihr seine Jacke: „Vor mir brauchst du dich nicht schämen“, meinte er. Krankenhaus, Einvernahme, Verhandlungstag: „Er hat dafür siebeneinhalb Jahre bekommen. Jetzt ist er wieder auf freiem Fuß.“

Frau K. ist eine von vielen. Das sagt sie auch selbst über sich. Die Geschichten der Betroffenen sind unterschiedlich, doch es gibt einen gemeinsamen Nenner: Gewalt gegen Frauen hat System. Auf der Straße, im Park, auf der Couch. „Es passiert stündlich, jede Minute“, sagt Frau K. Sie kann den Ratschlag „Die Zeit heilt alle Wunden“ nicht mehr hören. Denn sie weiß: Mit den Folgen kämpft man ein Leben lang. „Oft kommt erst später alles hoch. Zum Beispiel, wenn auf der Straße jemand ähnlich aussieht.“ Was hätte sie damals gebraucht? Frau K. überlegt. Einen Ort, wo man eine Nacht unkompliziert durchschlafen kann. Und Therapiemöglichkeiten. „Es ist ein Spießrutenlauf, bis man jemanden findet, mit dem man sprechen kann.“ Manchmal hätte sie den Eindruck, dass es für Täter in Haft mehr Angebote gebe. 

Ende des Kreislaufs

Heute ist Frau K. eine, die den Kreislauf durchbrochen hat. Damals, zu Allerheiligen. Sie kommt ins Haus Rosalie, eine Notschlafstelle für Frauen. Die Vinziwerke helfen. Schnell, unbürokratisch. Sie lernt VinziTel-Chef Andreas Kleinegger kennen. Als ihr Sozialbetreuer räumt er ihr die größten Stolpersteine aus dem Weg. „Man muss es annehmen wollen“, sagt Frau K. Und das tat sie auch.

Die Vinziwerke glauben vor allem an ein Prinzip: Housing First. Anfang der 1990er Jahre wurde das Konzept in den USA entwickelt. Vereinfacht gesagt: Der Weg zurück ins Leben beginnt mit Wohnraum. Kompromisslos und nicht an Bedingungen geknüpft. Für Frau K. ist das genau die Unterstützung, die sie gebraucht hat. „Es war die einzige Wohnung, die ich mir angeschaut hab‘, und es hat sofort gepasst.“ Ein Mietvertrag. Ungestört durchschlafen. Eine Tür, die Frau K. absperren kann. Was ihr das bedeutet? „Alles.“

Andreas Kleinegger leitet das VinziTel
Andreas Kleinegger leitet das VinziTel © KLZ/Manuel Hanschitz