Merih Demiral hebt seine Hände zum Torjubel, und formt den Wolfsgruß. Die Geste des türkischen Nationalspielers bei der EM sorgte für Aufsehen und verbreitete sich viral. Sie wird in Österreich als rechtsextrem türkisch-nationalistisch eingestuft. – Szenenwechsel. Ein Posting zeigt eine Rauchwolke, darunter ein Satz: „Jüdisches Familienfoto“. – Ein Foto auf einer Online-Plattform zeigt eine beschmierten Wand „1312“ – Synonym für „All Cops Are Bastards“. – Facebook-Posting: Heute am 20. April gibt’s bei uns Eiernockerl um 8,80 Euro (der 8. Buchstabe im Alphabet ist H, also Heil Hitler, der 20. April ist sein Geburtstag, Eiernockerln galten als Lieblingsspeise des Diktators).
Beispiele und Symbole auf 100 Seiten
All das sind Beispiele für extremistische bzw. Hasspostings im Netz. „Der Hass ist noch antisemitischer, queerfeindlicher und menschenverachtender geworden“, sagt Daniela Grabovac, die die Antidiskriminierungs- und Extremismuspräventionsstelle Steiermark leitet. Am Donnerstag wurde der umfassende „next Leitfaden: Radikalisierungssymbole online und offline erkennen, erfassen, eingreifen“ präsentiert, der an Jugendzentren, die Bildungsdirektion und Sozialarbeiter verteilt werden soll.
Anstieg bei Antisemitismus, Antifeminismus
2017, kurz nach der großen Flüchtlingskrise, wurde gemeinsam mit dem Land Steiermark die „Ban Hate“-App ins Leben gerufen. Das Bundesland war hier europaweit Vorreiter. Über die App kann jeder und jede Onlineinhalte melden, die rechtsextrem, religiös extremistisch, linksextrem, diskriminierend, rassistisch etc. erscheinen.
Die Extremismuspräventionsstelle vermeldet einen starken und bedenklichen Anstieg. Im Jahr 2023 gab es so viele Ban Hate-Meldungen wie noch nie: 4.417 an der Zahl. Davon wurden 1.689 verfolgt, der Rest konnte nicht verfolgt werden, weil die Inhalte gelöscht wurden. Ein kleiner Lichtblick für Grabovac: „Die Löschpflicht der Provider durch die EU scheint zu wirken.“
Mehr Bereitschaft zur Radikalisierung
Dennoch: Die Tendenz erschreckt. Die Bereitschaft zur Radikalisierung beunruhigt. Im letzten Jahr haben Kriege und die Unsicherheit vor der Zukunft den Hass im Netz genauso befeuert wie es 2020 die Coronakrise tat (mit 3.215 die zweitmeisten Ban Hate-Meldungen). „Und soziale Medien sind der Brandbeschleuniger“, sagt Grabovac. Unbedachtes Weiterleiten führt zu mehr Klicks, die Algorithmen spielen mehr solcher Inhalte aus, eine Blase entsteht.
Radikalisierung stellt kein Randphänomen mehr da, sind sich Expertinnen und Experten einig. Es wird gewarnt, dass der Onlinehass sich auf die reale Welt überträgt. So erfasste, wie das Innenministerium am Mittwoch berichtete, die österreichische Polizei letztes Jahr 5.668 sogenannte „Hate Crimes“.
„Hass wird quasi salonfähig“
Online schnellt die Zahl der Verstöße gegen das Verbotsgesetz in die Höhe, erläutert Grabovac. Uni-Professorin Katharina Scherke, die am Leitfaden mitgeschrieben hat, sieht darin eine große Gefahr: „Hass wird salonfähig und legitimiert. Wir müssen hier alle eingreifen.“ Der Nahostkonflikt, so fügt Historiker Helmut Konrad an, verschärfe alles: „Antisemitismus, auch Antifeminismus, kommt quasi überall vor.“
Zeitgeschichte-Professor Dieter A. Binder fordert Aufklärung, „um die Spirale, die immer tabuloser wird“, zu stoppen. FH-Professor Heinz Wassermann fügt an, dass es Linksextremismus ebenso gäbe – vor allem im öffentlichen Raum –, aber quantitativ eher als Randphänomen. Familienlandesrätin Simone Schmiedtbauer (ÖVP) und Soziallandesrätin Doris Kampus (SPÖ) bekräftigen zum Schluss: „Wir wollen den Menschen, die diskriminiert werden, das Gefühl der Ohnmacht nehmen.“