Wir stehen in der Ecke, das Videointerview muss warten. Ein Bub kommt durch die Tür, die den Schülern immer offensteht. Er schließt sie, auf Anweisung des Direktors. Manfred Wacker fragt: „Na, wie ist das passiert?“ Das Prozedere wiederholt sich mit zwei weiteren Burschen. Kurz zuvor war Hofpause, die Kinder lieferten sich Schneeballschlachten, manche nahmen den eisigen Schnee mit in die Schule. Dann wurde eine Lehrerin am Schulgang von einem Eisbrocken am Hinterkopf getroffen, keiner der Burschen will es gewesen sein.

„Ja, das ist eine Gewaltsituation“, sagt Wacker – er leitet die Digitale Mittelschule St. Leonhard in Graz – als alle Burschen das Zimmer verlassen haben. „Das war kein Schneeball aus dem Hof, das war Eis, da geht’s drum, nur irgendwem weh zu tun“, so der Pädagoge. Eine Stunde später sitzt ein Kind mit bleichem Gesicht am Gang und hält sich eine blutverschmierte Kältekompresse an die Wange, der nächste Eisbrocken hat sein Opfer gefunden.

„Gewalt war immer Thema“

Seit Ausbruch des Nahostkonflikts rückt Gewalt an Schulen in den Fokus – heuer wurden in der Steiermark bereits so viele Suspendierungen ausgesprochen wie sonst in einem Jahr. Doch Manfred Wacker weiß: „Die Gewalt war vorher genauso Thema, nur spricht man jetzt darüber.“

Video-Reportage aus der Mittelschule St. Leonhard:

Verbale Beschimpfungen sind Alltag

„Du schwule Sau, fick dich!“, „Du Fotze, schleich dich“ – gegen diese verbalen Beschimpfungen müssen sich Lehrpersonen behaupten. „Nicht alle schaffen das, eine Kollegin hat heuer nach einer Woche aufgehört“, erzählt der Direktor. Verbale Gewalt ist trauriger Alltag, auch unter Schülern.

„Du bist fett!“, ist nur eine Ansage, mit der eine 14-jährige Schülerin von ihren Klassenkollegen schikaniert wird. Von den anderen „schlimmen Sachen“ traut sie sich nicht zu berichten. Das Mobbing verlagert sich zusätzlich in den digitalen Raum, Cybermobbing. „Ich versuche meistens, die Sachen zu ignorieren, aber es ist schwer. Ich habe eh schon selbst meine ,Issues‘“, redet die Schülerin weiter.

Eine andere Schülerin hat mit ihren 14 Jahren bereits eine Schläger-Vergangenheit. „Wir waren da so in einer Truppe, man denkt, ich mach‘ halt mit, das ist cool. Gewalt ist ein Thema in unserer Generation“, sagt sie. Erst die Konsequenzen – polizeiliche Anzeigen – haben das Mädchen umgestimmt, jetzt will sie sich bessern.

Doch nicht alle schreckt eine Warnung vor der Polizei ab. „Wir haben einen Schüler, der ist amtsbekannt und hat mit zwölf Jahren schon mehr Vorladungen als Buchstaben in seinem Namen“, sagt Wacker. „Manche wissen genau, dass sie noch nicht strafmündig sind, die erklären den Polizeibeamten: ,Du hast mir gar nix zu sagen!‘“

Falsches Vorbild: Elternhaus

Meist ist die Gewalt im Elternhaus beispielgebend. „Das ist zum Teil in anderen Kulturen so drin. Ein Kind sagte mal zu mir: ,Da, wo ich herkomme, überlebe ich nur, wenn ich zuschlage.‘ Die Rucksäcke, die viele dieser Kinder tragen, möchte ich nicht tragen müssen“, sagt Wacker.

Konflikte enden teilweise blutig
Konflikte enden teilweise blutig © Klz/manuel Hanschitz

Unlängst saß ein Bub, der wegen angeblicher Erpressung von Mitschülern zu Hause 2000 Euro gestohlen hatte, in Wackers Büro. „Sein Vater hat plötzlich ein Stanleymesser gezückt, die Klinge lang ausgefahren, seinem Sohn überreicht und gemeint: ,Das nächste Mal, wenn die kommen, machst du Ritsch-Ratsch!‘ Was soll aus so einem Kind werden?“ Es gäbe, so fügt der Direktor noch an, genauso die „schlechten Österreicher“, wo Kinder zu Hause verwahrlosen oder Gewalt (vor-)gelebt wird.

Prävention so früh wie möglich

Ansetzen müsste man in der Prävention, die für den Direktor schon im Kindergarten starten sollte. Kürzlich war er zu einem Runden Tisch bei Bildungslandesrat Werner Amon geladen, dieser auch Ergebnisse brachte. So sollen Suspendierungen nun begleitet werden, um mit den Kindern in der Zeit zu arbeiten. Förderstunden sollen in schweren Fällen verpflichtend eingeführt werden. Dazu braucht es aber das Personal.

Die Schulsozialarbeit soll laut Werner Amon auf 10 Vollzeitkräfte aufgestockt werden, 80 (57 davon Vollzeit) sind aktuell steiermarkweit tätig. „Meine Schulsozialarbeiterin leistet Unvorstellbares, aber sie ist leider nur drei Tage die Woche da“, meint Wacker. „Ich versuche den Kindern klar die Grenzen aufzuzeigen“, sagt die Schulsozialarbeiterin, die anonym bleiben will. „Im Einzelgespräch erzählen sie dann von ihren Problemen, die sich wie ein Vulkan aufbauen, und irgendwer kriegt es ab.“

Sie plädiert dafür, dass es auch mehr Schulpsychologen (31 gibt es momentan für die ganze Steiermark) und Schulärztinnen und -ärzte braucht. „Wenigstens hat die Politik erkannt, dass man handeln muss. Wir nehmen alles, was wir kriegen können“, sagt Direktor Wacker. Der Beruf als Lehrer ist für ihn nach wie vor der Schönste: „Man muss sich an die Mehrheit der Kinder erinnern, die dich freundlich in der Früh grüßen.“

Trotz aller Widrigkeiten liebt Wacker seinen Job
Trotz aller Widrigkeiten liebt Wacker seinen Job © Klz/manuel Hanschitz

Nach dem Gespräch verlässt er sein Büro, mit der stets offenen Tür und tritt auf den Gang. Lehrer grüßen ihn, Schüler lachen ihn an. „Als Pädagoge, als Direktor, kannst du so viel gestalten, aber wir brauchen auch die Unterstützung.“